Der Retter des Dokumentes

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Was der Dichter Paschasius zur Überlieferung der 1500 Jahre alten "Vita S. Severini" des Eugippius beitrug.

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Was der Dichter Paschasius zur Überlieferung der 1500 Jahre alten "Vita S. Severini" des Eugippius beitrug.

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Die Wortgewaltigen der Literatur und der öffentlichen Meinung mögen darüber staunen: zu verkünden ist der Ruhm eines Dichters, der durch Selbstbeschränkung und Nichtannahme eines ehrenvollen Auftrags eines der wichtigsten Dokumente der Spätantike und des Frühchristentums rettete. Es ist der römische Diakon Paschasius. Die Zeitgenossen des 6. Jahrhunderts rühmten den "Honig seiner Rede". Die Rolle, die er in der Geschichte der "Vita S. Severini" des Eugippius spielte, wird wenig beachtet und ist ein klassisches Beispiel für eine fast vergessene Haltung eines Literaten, die Demut aus Kennerschaft.

Verständlicherweise steht der Dichter-Diakon im Schatten des Heiligen, um dessen Lebensbeschreibung und dessen Wirken in Noricum auf dem Boden des heutigen Österreich es sich handelt. Dieser Glaubensbote, aus der römischen Bildungs- und Führungsschicht stammend, war eine Art gesellschaftlicher Aussteiger. Er soll vorübergehend in den höfischen Diensten des Hunnenkönigs Attila gestanden sein und kam nach dessen Tod und dem Ende der Völkerwanderung um die Mitte des 5. Jahrhunderts in das von den Römern besetzte Gebiet am Donau-Limes im heutigen Ober- und Niederösterreich. Obwohl er kein Priester war, entwickelte er eine im Freundes- und Feindesland aufsehenerregende Prediger-, Sozial- und Pazifistenaktivität, war eine Art wundertätiger Laienmönch und stand im Rufe der Heiligkeit.

Einzigartiges Zeugnis Als er im Jahre 482 starb, soll er zunächst in Wien-Heiligenstadt bestattet worden sein. 488 wurde der Leichnam von Severins Mönchsgefährten beim Abzug der Römer nach Süditalien mitgenommen. Unter den Männern, die ihm in dieser Zeit nahestanden, war der schreibkundige Mönch Eugippius. In Lucullanum bei Neapel, wo schließlich der Leichnam Severins mit dem Segen des Papstes Gelasius und des Bischofs Victor zur Ruhe kam und der ihn begleitende Freundeskreis eine Mönchsgemeinde gründete, bekleidete Eugippius vermutlich eine leitende Funktion.

Damals - um die Wende vom 5. zum 6. Jahrhundert - zirkulierte in mönchischen Kreisen die Lebensbeschreibung eines heiligmäßigen Bassus aus Arminium (heute Rimini). Als Eugippius sie zu lesen bekam, faßte er den Entschluß zu erkunden, zu gliedern und aufzuschreiben, was er über Severin erfahren konnte. Aus dieser Anregung entstand der Text der Vita S. Severini. Eugippius legte sie als einigermaßen chronologische Faktensammlung an, in der wichtige und nachprüfbare historische Details mit Erbauungs- und Wundererzählungen abwechseln. Mit dem Ergebnis seiner zweifellos mühevollen Recherche und Schreibarbeit war Eugippius höchst unzufrieden. Er wünschte sich vielmehr nach dem Vorbild großer römischer Dichtung von Vergil bis Ovid einen umfangreichen Hymnus auf den Heiligen seiner Gemeinschaft.

Es ist kulturell bedeutsam, daß das Christentum damals auch die römische Literatur aufnehmen und unter neuem Vorzeichen in seinen Dienst stellen wollte.

Daß er eine solche poetische Überhöhung nicht schaffen konnte, sah Eugippius selbstkritisch ein. Aus diesem Grunde wandte er sich an den eingangs erwähnten Dichter Paschasius und erwartete von ihm ein literarisches Meisterwerk.

Paschasius dürfte das Ansinnen, welches da in wortreicher Devotion aus Neapel an ihn herangetragen wurde, durchaus geschmeichelt haben. Aber - und dies ist sein großes Verdienst - er erkannte, daß mit der Vita, die Eugippius geschrieben hatte, ein wertvolleres Zeitdokument vorlag als eine hymnische Apotheose vermitteln könnte. Und er sandte daher Eugippius seinen Text mit dem Bemerken zurück, das Werk sei so vollkommen, daß ihm der Dichter nichts mehr hinzufügen könne.

Solche Belobigung ermunterte Eugippius. Er fügte den Briefwechsel mit Paschasius seiner Vita S. Severini als Prolog und Epilog hinzu. Vor etwa 1500 Jahren lag damit die erste umfangreiche und in vielen Einzelheiten verläßliche Lebensbeschreibung eines Heiligen auf österreichischem Boden und ein einzigartiges Zeugnis für Organisation und Sozialverständnis des frühen Christentums vor.

Die Urschrift ist nicht erhalten. Die ältesten bekannten Abschriften entstanden in den Klöstern von Monte Cassino und Bobbio. Bis ins Mittelalter gehörte ein abgeschriebenes Exemplar der Vita S. Severini gewissermaßen zu den Standardwerken in den größeren Klosterbibliotheken. Nördlich der Alpen war die Vita bereits in der von dem iroschottischen Bischof Virgil angelegten Stiftsbibliothek von St. Peter in Salzburg bekannt.

Da zumindest im frühen Mittelalter kein Mangel an erbaulicher Literatur und Heiligen-Beschreibungen mehr bestand, ist zu fragen, was Bischöfe und Äbte und die damalige Kirche überhaupt so sehr an dem Werk des Eugippius faszinierte, daß sie es fast wie die Evangelien und die Kirchenväter schätzten und immer wieder lasen und abschreiben ließen.

Die Bestätigung eines Heiligen durch wunderbare Ereignisse in seinem Leben und nach seinem Tod gilt als göttliches Zeichen. Aus heutiger Sicht mag es dafür teilweise psychologische oder allzu natürliche Erklärungen geben. Und selbstverständlich setzten Hagiographen immer schon ihren Ehrgeiz darein, Zahl und Effekt der Wunder auch zu allegorisieren. Das trifft auch auf die von Eugippius gestaltete Vita zu. Daß Severin eine starke, göttlich begnadete Persönlichkeit mit übernatürlichen Fähigkeiten war, ist jedoch nicht zu bezweifeln. Das erweckte Staunen und Verehrung.

Gewaltfrei und listig Dennoch scheint es, daß es vor allem seine intellektuelle, aszetische und soziale Strategie war, die die frühchristlichen Pioniere und Missionare und ihre Auftraggeber begeisterte. In einer Zeit, in der Haudegen- und Gewaltmethoden durchaus auch als Mittel der Glaubensverbreitung galten, setzte Severin auf gewaltfreie Verhandlungstaktik und Überzeugungsarbeit. In der kriegerischen Auseinandersetzung mit den Rugen, die den Römern nördlich der Donau gegenüberstanden, erzielte er damit erstaunliche Erfolge. In der berühmten Schlacht an der Tiguntia ließ er die Römer zur List greifen. Die Feinde wurden nicht getötet, sondern mit Fischernetzen gefangen und dann einzeln mit Friedensbotschaft an ihren Fürsten freigelassen. Die Überfälle auf die römischen Siedlungen wurden daraufhin eingestellt.

Die Organisation der Nahrungsversorgung war Severins besonderes Anliegen. Er setzte radikal auf soziale Verteilungsgerechtigkeit. Einer Spekulantin, die eine drohende Hungersnot zur Erhöhung der Getreidepreise nutzen wollte, hielt er eine scharfe Brandpredigt. Fasten als seelisches und körperliches Stärkungsmittel hielt er stets für notwendig. Nicht ohne Schmunzeln liest man eine Episode aus Batavis (Passau), in der die aszetisch überforderten Gläubigen seine Abreise forderten, weil sie "das ewige Fasten und Beten" sonst nicht mehr aushielten.

Was als heutige Missions-Forderung der Inkulturation gilt, war auch schon Severins Methode. Als Römer hielt er das Christentum selbstverständlich für einen Bestandteil der römischen Kultur, aber er ließ gleichzeitig keinen Zweifel daran, daß die Anpassung an andere Kulturen zur Ausbreitung erforderlich sei. An einigen theologischen Spitzfindigkeiten der frühen Konzilien war er völlig unbeteiligt und auch uninteressiert, weil er die christliche Praxis für wichtiger hielt.

Die iroschottische Mission, die sich von Salzburg nach Osten richtete und sich in ihren gewaltfreien Inkulturationsbestrebungen von der fränkischen Machtpolitik unterschied, fand in Severin ihr Vorbild. Dies dürfte einer der wesentlichen Gründe für die Verbreitung und Hochschätzung der Vita des Eugippius gewesen sein.

Manche Forscher meinen, daß die Bezeichnung der von Severin gegründeten Mönchszelle "Ad venias" namensgebend für die Bundeshauptstadt gewesen sei. Jedenfalls leitet sich die durch Jahrhunderte bewährte österreichische Staatsdoktrin des Machtzuwachses durch Kompromißfreude und Ausgleich, die österreichische Mentalität des Verhandelns und Zusammenredens vom Beispiel Severins ab. Eine geistige Linie zeichnet sich da bis zur Sozialpartnerschaft in unserer Gegenwart ab.

Das Zeitlose Wie stark und geheimnisvoll kann der Genius loci eines Heiligen der christlichen Frühzeit sein? Es sei in diesem Zusammenhang bemerkt, daß an eben der Stelle auf dem Heiligenstädter Pfarrplatz, wo Severin von 482 bis 488 in der heutigen Krypta der Jakobskirche bestattet war, Ludwig van Beethoven seine Neunte Sinfonie komponierte, deren Hymne an die Freude zur neuen Europa-Hymne wurde.

Die Ideen und Forderungen politischer Zusammenarbeit, die Ernst Karl Winter in der Ersten Republik vehement und leider vergeblich erstrebt hatte, brachten bekanntlich der Zweiten Republik Stabilität und Aufstieg. Ist es ein Zufall, daß eben dieser gelehrte Politiker Ernst Karl Winter ein besonderer Verehrer und Forscher für Severin war?

Die deutschen Übersetzungen der Vita S. Severini, die es schon seit dem l9. Jahrhundert gibt, berühren immer noch durch die dokumentarische Frische und Unmittelbarkeit ihrer Schilderungen. Es ist nicht die Vergangenheit an sich, aus der zu lernen ist, sondern das Zeitlose einer Friedensstiftung und Versöhnlichkeit, wie sie von Severin gelehrt und vorgelebt wurde. Daß dieses Beispiel auf uns gekommen ist, ist auch das Verdienst des Dichters Paschasius und seiner klugen Zurückhaltung. Im aktuellen Kirchenführungskonflikt Österreichs lohnt es sich, darüber nachzudenken.

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