Der Rollstuhlfahrer kann ganz schön böse werden

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Hat Erwin Riess mit dem frechen Rollstuhlfahrer Groll den Helden einer Krimi-Serie kreiert?

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Hat Erwin Riess mit dem frechen Rollstuhlfahrer Groll den Helden einer Krimi-Serie kreiert?

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Ein Rollstuhlroman, rotzfrech, geschrieben von einem Autor, der nicht Oskar heißt, dessen Herz aber am linken Fleck schlägt und der über eine gepflegte Portion Ironie verfügt, so präsentiert sich der Debütroman des Österreichers Erwin Riess. Rollstuhlfahrer sind Objekte unseres Mitleids, da sie doch an ihren Untersatz gefesselt sind. Fortbewegung ist zwar möglich, aber Hindernisse aller Art erschweren die Selbständigkeit. Rampen sind zwar nicht überall Realität, aber selbstbewußt drängt sich der Journalist Groll des Autors Erwin Riess ins Rampenlicht und fordert sein Recht ein, als Subjekt anerkannt zu werden.

Groll hält stumme Zwiesprache mit seinem Rollstuhl Josef, denn auch der ist ein Subjekt, und verspricht, daß er jeden, der in Zukunft den Ausdruck "an den Rollstuhl gefesselt" verwendet, niederschlagen werde (der Rezensent wird sich in acht nehmen): "Zwanzig Jahre Aufklärungsarbeit, zehn Jahre gutes Zureden und Leserbriefe haben nichts genützt, die Phrase überfällt uns, wo immer wir auf Menschen treffen. Das muß abgestellt werden. Wenn wir die Phrase nicht ausrotten können, müssen eben jene, die nicht von ihr lassen wollen, dran glauben. Da darf es keinen Kompromiß geben. Wir oder sie, das ist die Frage des kommenden Jahrtausends."

Groll ist nicht nur durch seine Fortbewegung ein Fremder in diesem Land, sondern auch durch die Verwendung seines Kopfes. Er ist ein kritischer Geist, wenngleich manchmal etwas verbittert, der eben nicht mit dem Bauch denkt, sondern das Gehirn dazwischenschaltet. Die Zeiten für diese Art von Geistern sind - seien sie nun Fußgänger oder Rollstuhlfahrer - nicht besonders gut. Mag sein, daß letztere, die von vornherein nicht so ungehindert auf den vom Kapitalismus und Neoliberalismus eingeebneten Straßen rollen, besser prädestiniert sind, die versteckten Fallen des Systems aufzuspüren. Die Zeiten für Linke, welcher Schattierung immer, sind nicht besonders gut und viele Felle sind ihnen nicht erst 1989 davongeschwommen, wie Donauschiffe aller Nationalitäten eben im Nebel Ungarns entschwinden. Groll ist nicht nur Rollstuhlfahrer, sondern auch ein Fan der Donauschiffahrt und kennt, ja liebt seine Objekte. Schließlich ist er auch im "Wasserstraßen- und Schiffahrtsverein". Dies ist nur eine Marotte von ihm, doch fast scheint es so, als würde dieser skurrile Zug nur deswegen so dominant im Mittelpunkt stehen, damit die Leserin und der Leser nachsichtiger die beißenden Analysen ertragen, die in einem Gemisch aus Soziologendeutsch und sozialwissenschaftlichem Jargon verfaßt sind. Hier macht sich der Autor nicht nur über eine wissenschaftliche Form des Denkens lustig, sondern zeigt gleichzeitig auch, daß trotz dieser Diktion auch mit diesen Hilfsmitteln eine klarere Sicht auf die Realität geschaffen werden kann. Die Nebel über der Donau verschwinden bei Sonneneinstrahlung oder bei entsprechendem Wind, die Nebel vor unseren Augen können wir selbst entfernen. "So wie die Menschen des Altertums die Natur vergötzten, weil sie ihr hilflos ausgeliefert waren, vergötzen Rollstuhlfahrer die Bausubstanz, weil sie mit ihr nicht zu Rande kommen. Vielleicht spricht G. deshalb von zugänglichen Gebäuden, als seien die Baulichkeiten freundliche und hilfsbereite Menschen?"

Nach einigen Theaterstücken ist Erwin Riess mit "Giordanos Auftrag" ein beachtenswerter Roman geglückt, ungewöhnlich für Österreich, denn er versucht auf einem schmalen Grat zu fahren. Nicht auf einer Rampe, sondern auf der Trennlinie zwischen Intellektualiät und Selbstkritik, ganz im Stile der "Krüppelbewegung", ohne sich in theoretischen Konstrukten von Menschen und Zuständen zu verstricken. Diese werden vielmehr in Geschichten verpackt, und dabei wird auch die Natur nicht vergessen, die weder für Rollstuhlfahrer noch für Linke ein ausgesprochener Tummelplatz war und ist.

Daß sich dieser Roman mit seinem Protagonisten nicht in das Klischee der Mehrheit von dieser Minderheit einordnen läßt, über die gern hinweggesehen beziehungsweise die unter Aufwendung wohlmeinenden Mitleids ausgeblendet wird, verdankt er seiner dualen Konstruktion. Groll wird ein Dozent an die Seite gestellt, der ihn für eine wissenschaftliche Studie analysiert. Mit diesem Trick ist die kritische Sicht auf die persönliche und politische Perspektive Grolls sozusagen eine Notwendigkeit, eine Art Brecht'scher Verfremdung. Groll bekommt von einem amerikanischen Rollstuhlmagazin den Auftrag, einem mysteriösen, übers Internet abgesetzten Hilferuf des Behinderten Roebling zu folgen, der offenbar einem großen Skandal auf der Spur ist und in einem ungarischen Heim verschollen scheint. Groll fährt mit seinem 2CV nach Ungarn, und wir werden Zeugen einer abenteuerlichen Spurensuche und dürfen miterleben, welche unmöglichen und gefährlichen Situationen mit einem Rollstuhl bewältigt werden können.

Erwin Riess, selbst im Rollstuhl, gelingt es auch, das körperliche Befinden seines Helden eindringlich zu schildern. Das reicht vom Kult um das Campingklo bis zur Sexualität. Groll deckt einen beispiellosen Skandal der europäischen Pornoindustrie auf, die für ihre Videofilme Behinderte aus Heimen des ehemaligen Ostblocks rekrutiert. Riess' Schilderungen der Pornoindustrie sind harte Kost, doch die Analysen Grolls und seines Dozenten bringen auch hier ungewohnte Blickwinkel.

Unter den vielen Romanen der letzten Monate ist "Giordanos Auftrag" sicher einer, dessen eindringliche Sprache, ungewöhnliche Bilder und Szenen lange nicht aus dem Gedächtnis verschwinden werden, und dies nicht nur, weil es der erste, in dem ein Rollstuhlfahrer als Detektiv unterwegs ist. Nicht, daß er unterwegs ist, ist entscheidend, sondern das Wie. Treppen werden bewältigt und über die Überwindung der Hindernisse wird philosophiert, immerhin rücken sie diesen Alltag in die Nähe der Extrembergsteigerei. "Jede Treppe hat ihren unverwechselbaren, einzigartigen Rhythmus; ihn zu entschlüsseln, die Treppe gleichsam zu lesen, ist Aufgabe des Rollstuhlfahrers ... Man kann das Treppensteigen im Rollstuhl mit dem Bergsteigen vergleichen. Lesen Sie Reinhold Messner, sage ich zum Dozenten, wenn dieser eine Treppe zu schnell oder zu langsam in Angriff nimmt. Würde er Reinhold Messner lesen, wüßte er, daß jeder Berg nur mit dem ihm eigenen Rhythmus zu bezwingen ist; alle Bergtragödien sind demnach auf Abweichungen vom richtigen Rhythmus zurückzuführen."

Groll rollt weiter in seinem Rollstuhl, auch wenn Josef bei seiner Flucht durch das Labyrinth in den Kasematten der Burg von Eger verlorengegangen ist. Bruchstückhaft können wir die Reisen und Abenteuer Grolls auch außerhalb des Romans verfolgen, ihre Spuren finden sich in den Glossen des Autors in verschiedenen Zeitungen. Der nächste Auftrag für Groll ist also nur eine Frage der Zeit, wenn er vielleicht auch das nächste Mal nicht von Giordano vom "Manhattan Wheeling Courier" in New York kommt. Oder haben wir vielleicht soeben einen neuen Serienhelden kennengelernt?

Giordanos Auftrag. Roman von Erwin Riess. Verlag Elefanten Press, Berlin 1999. 284 Seiten, geb., öS 274,- / E 19,94

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