Der Star ist die MANNSCHAFT

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Bei der EM zählen nicht die genialen Einzelspieler, sondern die Kreativität des Kollektivs. Wie sind die großen Favoriten - und Österreich - aufgestellt?

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Bei der EM zählen nicht die genialen Einzelspieler, sondern die Kreativität des Kollektivs. Wie sind die großen Favoriten - und Österreich - aufgestellt?

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Europa, geballt

Die Spannung steigt: Die Fußball-EM in Frankreich beginnt, Österreich kämpft mit. Wird die herbei geschriebene "Spaltung des Landes" bald durch nationalen Taumel abgelöst? Die FURCHE beleuchtet Philosophie, Ethik und das integrative Potenzial dieses Sports, hat sich aber auch bei den Wettbüros umgehört und liefert eine feinsinnige strategische Fußball-Analyse.

Redaktion: Martin Tauss

Fußball ist ein simples Spiel und dennoch höchst komplex. Fußball ist viel mehr als Athletik und koordinative Begabung der Spieler. Fußball schafft soziale Strukturen ("Mannschaft") und lebt von Ideen menschlichen Zusammenwirkens ("Taktik"). Der Einzelne ist außerhalb dieser Struktur wirkungslos. Diese Botschaft ist so alt wie das Spiel. Sie ist nebenbei gesagt - sinngemäß - auch das Substrat jeder demokratischen Staatstheorie seit der Antike. Und sie ist hoffentlich die Antwort der Zukunft auf die Zeit des überbordenden Individualismus, der grotesken Selbstoptimierung und den Zwang zur Selbstverwirklichung. An die Richtigkeit dieser Botschaft kann man glauben, siehe Leicester City, seit kurzem Sensationsmeister in England, oder auch nicht, siehe Real Madrid, seit kurzem Champions-League-Sieger und generell nicht ganz erfolgloser Langweiler aus Spanien.

Was macht denn nun aus dem Blickwinkel der Solidargemeinschaft eine Mannschaft zu einem guten Team? Erstes Ziel in einer Mannschaft sollte es sein, zu einer gemeinsamen Idee, also einem kollektiven Spielverständnis zu finden, das von allen respektiert und unterstützt wird. Erfolg sollte primär nicht individuell begriffen werden, sondern darin, Teil eines Ganzen zu sein, zu dem alle Mitwirkenden gleichwertig beitragen, auch Ersatzspieler, Masseure, Zeugwarte und alle anderen im Team. Persönlicher Erfolg und damit auch Antrieb ist im besten Fall die Möglichkeit für jeden, die eigene Kreativität in der individuellen Gruppenaufgabe ausleben zu können. Eine gute Mannschaft ist immer jene, die als sozialer Organismus funktioniert und ihrer Überzeugung, sprich Spielidee, treu bleibt - selbst wenn Spiele verloren gehen.

Die Euro 2016 wird es zeigen, denn diese hier nur grob geschilderten Mechanismen lassen sich besonders gut bei Nationalmannschaften beobachten. Und zwar deshalb, weil sie sich im Unterschied zu Vereinsmannschaften nur langsam entwickeln und verändern lassen. Zudem treten bei Nationalmannschaften gewisse ländertypische Charakteristika hervor, die sich in der Spielidee und Spielweise widerspiegeln. Realer Hintergrund dieser eher trägen Gruppendynamik von Nationalmannschaften ist, dass sich deren Kader aus Absolventen der nationalen Fußballausbildung zusammensetzt, die nicht "zugekauft" werden können. Obwohl freilich auch in der Nachwuchsarbeit zuletzt Entwicklungen begonnen haben, die selbst in diesem Bereich zu einer Internationalisierung und länderübergreifenden Standardisierung geführt haben: Fußballakademien, Professionalisierung und Wissenstransfer in der Trainingsarbeit sowie - leider bringt die globale Marktvernetzung immer auch Unheil mit sich - "Transfers" von begabten Kindern und Jugendlichen aller Länder in die Vereinsakademien der marktbeherrschenden Ligen in England, Spanien, Deutschland und Italien. Nicht wenige dieser Jugendlichen scheitern, weit entfernt von ihren Familien und unter großem Leistungsdruck, in bedauernswerter Weise. Aber kommen wir zum Thema: ein Blick auf die großen europäischen Fußballnationen - und auf Österreich.

DEUTSCHLAND

Der regierende Fußball-Weltmeister wird als großer Favorit auf den Euro-Titel gehandelt. Deutschland präsentiert sich bei großen Turnieren (fast) immer stark, sicher auch weil der Selbstzweifel bekanntlich nicht zu den deutschen Tugenden zählt. Dazu kommen unbestreitbar große fußballerische Klasse, besonders bei den wendigen, schnellen und technisch versierten Offensivspielern, das womöglich beste Innenverteidigerpaar Europas (Jerome Boateng und Mats Hummels) und der mehrfache "Welttorhüter" Manuel Neuer. Bloß die Position des Mittelstürmers und die im modernen Fußball so wichtigen Außenpositionen in der Abwehr bereiten gewisse Sorgen. Unvorhersehbar und vielleicht das größte Manko der aktuellen Mannschaft ist das teils abhanden gekommene Mannschaftsgefüge. Die abgedankten WM-Helden Lahm, Mertesacker und Klose haben große Lücken hinterlassen. Auch der fanatische Antreiber der Mannschaft, Bastian Schweinsteiger, scheint den Rest seiner Kräfte beim Titelgewinn 2014 gelassen zu haben. Es wird vor allem an Teamchef Joachim Löw liegen, die Führungsrollen neu zu besetzen. Zumindest in den Testspielen ist dies nicht immer gelungen. Doch gerade Mannschaftsführung und "Teambuilding" gehören sicherlich zu den Stärken Löws.

FRANKREICH

Erster großer Herausforderer der Deutschen sollte Gastgeber Frankreich sein. Die Buchmacher sehen das französische Team sogar auf Augenhöhe mit Deutschland. Tatsächlich sind die Franzosen in allen Mannschaftsteilen gleich stark besetzt. Sie haben große Individualisten, aber auch Kämpfer in der Mannschaft. Doch ist die französische Nationalmannschaft immer undurchschaubar. Nur zwei Fußballgenerationen Frankreichs haben es geschafft, ihren Hang zur Selbstdarstellung und Zerstrittenheit sowie ihre Lust am eigenen Untergang zumindest für vier Wochen zu überwinden. Zur letzten dieser Generationen gehörte auch der jetzige Teamchef Didier Deschamps, der mit dem einzigartigen Zinedine Zidane den WM-Titel 1998, ebenfalls als Gastgeberland, und den EM-Titel 2000 holte. Wenn die Mannschaft die Euphorie und Erwartungshaltung ihrer Landsleute positiv umsetzen kann, spricht viel dafür, dass Frankreich ein erfolgreiches Heimturnier spielen wird.

SPANIEN

Der EM-Titelverteidiger rangiert bei den Wettbüros an dritter Stelle. Doch die letzten Monate haben gezeigt, dass die Spanier zwar einen hervorragenden Kader, sich jedoch als Mannschaft nach dem Tod des "Tiki-Taka"(rotierendes Kurzpass-Spiel) noch nicht wiedergefunden haben. Man hat den Eindruck, dass Teamchef Vicente del Bosque dem nach den grandiosen Titeln (WM 2010, EM 2012) aus Altersgründen veränderten Team langsam eine neue Spielidee geben will. Bei der WM 2014 ist er damit im großen Stil bereits in der Vorrunde gescheitert. Dies wird sich wohl nicht wiederholen. Aber es ist doch zu bezweifeln, dass es heuer wieder zum Titelgewinn reichen wird.

BELGIEN

Die aktuelle Nummer 2 der FIFA-Weltrangliste will noch größer werden als die große belgische Mannschaft der 1980er-Jahre, die bei der WM 1986 Vierter wurde und nur am damals göttlichen Maradona gescheitert ist. Die heutige Mannschaft hat das Potenzial dazu, muss aber die Biederkeit ihres Trainers Marc Wilmots ablegen

(in seiner aktiven Zeit in Deutschland als "Willi das Kampfschwein" bekannt geworden) und zu eigener Persönlichkeit und mehr Spielfreude finden. Die sind ihr bei der letzten WM noch abgegangen. Die Mannschaft ist im Defensivverhalten kompakt, spielt körperbetont, hat individuelle Klasse nach vorne und wird schwer zu besiegen sein.

ENGLAND

Die englische Mannschaft ist wohl der Geheimfavorit des Turniers. Sie erfindet sich unter Anleitung ihres Trainervaters Roy Hodgson, Gentleman, Stoiker und äußerlich im besten Sinn ein echter Brite, gerade vollkommen neu. Ganz unbritisch lässt er mit flinken und technisch starken Spielern und schnellem Kombinationsspiel in die Tiefe angreifen. Dazu kommen die beiden wohl besten Mittelstürmer dieses Turniers: Harry Kane, aktueller Torschützenkönig in der Premier League, und Jamie Vardy, Spieler des Jahres 2016 in England und Sensationsmeister mit Leicester City -der Mann, der noch vor fünf Jahren für den Fünftligisten Fleetwood Town und davor sechs Monate mit elektronischer Fußfessel gespielt hat, die er nach Verurteilung wegen Schlägerei mit Körperverletzung verpasst bekam. Größtes Defizit der Mannschaft ist aber ihr Defensivverhalten, besonders im Zentrum von Abwehr und Mittelfeld. Zum Titel wird es vermutlich nicht reichen, aber auf spektakuläre Spiele darf man sich freuen.

ITALIEN

Die Italiener sind als große Turniermannschaft bekannt, die sich unter Druck oft steigern kann und eigentlich in jeder Situation ihrer Spielidee treu bleibt, nämlich mit perfekter Organisation und mannschaftlicher Geschlossenheit abwartend und schlau zu spielen. Auch die aktuelle Mannschaft hat wie immer ihren Charme, aber vermutlich fehlt es ihr doch an individueller Klasse. Schade jedenfalls, dass Andrea Pirlo, der "King of Cool" des Fußballs, schon in die Jahre gekommen ist und den Sprung in den Kader nicht mehr geschafft hat.

ÖSTERREICH

Es ist das größte Verdienst von Teamchef Marcel Koller, dass er die österreichische Mannschaft zu einem funktionierenden Team gemacht und ihr eine Spielidee gegeben hat, die die Spieler verwirklichen wollen -und auch können. Unser Team wird dies hoffentlich auch bei der Euro 2016 unter Beweis stellen und ihre nicht zu unterschätzende Vorrundengruppe überstehen. Denn gerade Gegner wie Ungarn und Island sind Beispiele für Mannschaften, die aus einer funktionierenden Einheit heraus agieren. Der neue Erfolg der österreichischen Mannschaft zeigt jedenfalls exemplarisch, dass ein starkes Team und eine gemeinsame Idee unverzichtbar zusammen gehören.

Der Autor ist Legist im Justizministerium

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