Der subversive Narziss

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Erzählerische Philosophie und Politik des Lesens. Hans Höller zum 65. Geburtstag von Peter Handke.

Handke ist nicht leicht zu lesen. Seine Bücher verlangen Langsamkeit, Nachdenklichkeit, Aufmerksamkeit für Details, also genau das, was von den immens beschleunigten und vervielfachten Bildern der Medienwelt an den Rand gedrängt wird. Man müsste eigentlich genauer sagen: Handkes Schreiben ist bereits der Widerstand gegen die universal pictures, die uns die Welt verstellen und so tun, als wäre alles über die Welt gesagt.

In Handkes Büchern erscheint die Welt wieder offen wie am ersten Tag. Das Festgelegte wird in Bewegung gesetzt von einem Spiel des Fragens, das uns daran erinnert, dass doch auch die Literatur der Vergangenheit eine Kunst des Fragens ist. Einmal erzählte mir eine Stifter-Forscherin, die die kritische Edition der so genannten letzten "Mappe" Stifters vorbereitet, wie sie getroffen war von der Bewegung des Fragens, die in der Erzählung den Arzt erfasst, und wie der alte sterbenskranke Stifter die Projektionsfigur seines Schriftstellerlebens hineinreißt in einen einzigen epischen Fragestrom. Dieser Fragestrom, aber aufgelöst in die "Wirbel und Schnellen" seiner Sprachbewegung, erinnerte mich an Handke, an seine in Mikro-Fragen aufgesplitterten Sätze, Richtungsänderungen und sprunghafte Gedankenbewegungen, bisweilen burleske, winzige Abläufe innerhalb eines einzigen Satzes.

In den Fragestrom gerissen

Ich habe oft von Lesern gehört, dass sie Handke nicht mehr lesen können. Die zwei Hauptgründe: der eine, dass die großen epischen Romane unlesbar sind wegen der langen, verqueren Sätze; und der ganz woanders liegende Grund: wegen Jugoslawien. Vielleicht gehören diese weit auseinander liegenden Gründe sogar zusammen.

Wenn man Handkes Bücher nicht liest, kann man nicht entdecken, dass die angeblich unlesbaren Handke-Sätze, aufgesplittert, nein, aufgefächert von Zwischengedanken und Zwischenfragen wie sie sind, sich gar nicht so weit entfernen von unserem ganz normalen alltäglichen Denken und Reden, unserer allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Sprechen. Wir selber fallen uns doch ständig ins Wort und noch mehr den anderen, und dieses sich selber und einander ins Wort Fallen ist bei Handke zum Rhythmus und zur bewegten Gestik seiner künstlerischen Sprache geworden.

Wenn man Handkes Bücher nicht liest, hat man mit ihnen auch einzigartige Bücher über das Lesen versäumt. Ich behaupte, dass es keinen Autor der gegenwärtigen und der vergangenen Literatur gibt, der so viel über das Lesen nachgedacht und über das Lesen geschrieben hat, so dass manche Bücher nur das Abenteuer des Lesens von Büchern erzählen oder das Lesen als Verhalten zur Welt zum Thema haben.

Sogar Landschaften werden bei ihm gelesen, aber auch in den Landschaften sind wir Menschen mit unserem Ich uns selber der Gegenstand des Lesens. Von dem Erd- und Formenforscher Sorger, der die Landschaft am Yukon lesen lernt, heißt es in "Langsame Heimkehr", dass es ihm durch seine Forschungen gelang, "zugleich mit dem Erfassen des großen Wassers, dessen Strömens, dessen Wirbel und Schnellen" die zerstörerischen Naturkräfte durch die Entdeckung ihrer Gesetze "zu einer guten Innenkraft" zu verwandeln.

Landschaften lesen

Dieses Abenteuer der Verwandlung des Zerstörerischen in das sanftere Gesetz eines "guten Lebens" (Fred Wander) trifft sich mit den Intentionen jenes anderen Landschaftsforschers der Moderne, der seine Studien der destruktiven inwendigen Landschaften einmal im schönen Bild von der "Trockenlegung der Zuider-See" beschrieben hat. Die Erd- und Wasserwissenschaft am Yucon River, welche die Romanfigur in "Langsame Heimkehr" betreibt, enthält sogar die Idee eines humanisierenden Erzählens, das nicht einmal das Wasser zu verdrängen braucht, wenn aus dem Es der Landschaft die Ich-Geschichte herausgelesen wird.

Vor kurzem ist Günther Stockers Studie über das Lesen in der Literatur nach 1945 erschienen ("Vom Bücherlesen", Heidelberg 2007). Der Verfasser widmet ein zentrales Kapitel dem Werk Handkes, weil bei ihm fast alles mit dem Lesen zu tun hat, ob es das Sehen ist oder das Gehen oder das Essen. Sogar das Schneien, das sprichwörtliche erleichternde Schneien in Handkes Büchern, kann im Sinne Walter Benjamins und in Handkes eigenem Sinn als Bild des "Gestöbers der Lettern" gelesen werden.

Die Zeit "nach dem Krieg"

Schon der erste Roman Peter Handkes, "Die Hornissen" (erschienen 1966), ist ein Buch über das Lesen, hier über das Lesen nach dem Krieg - und das "Nach dem Krieg" ist bei Handke wie bei Ingeborg Bachmann die "Zeitrechnung", von der die utopische Sehnsucht nach einer Welt jenseits des Krieges ausgeht. Das einmal gelesene Buch, an das sich er zu erinnern versucht, ist verloren gegangen. In der Erinnerung sind nur mehr Bruchstücke dieses Buchs vorhanden, aus denen sich der jugendliche Erzähler seine Welt zusammenzubuchstabieren versucht.

"Seine Welt", das ist die Herkunftswelt des Autors, das zweisprachige Dorf im Krieg und nach dem Krieg. Neben dem Motiv des Buchs gibt es im ersten Roman das Motiv der Fensterscheibe als Medium, durch das der Blick auf die Welt hindurchgeht. Sie spiegelt das eigene Gesicht und gibt uns zu verstehen, dass wir immer durch unser Ich, durch das eigene Gesicht, auf die Welt schauen.

Im spiegelnden Fenster und im Sich-Spiegeln klingen schon im ersten Roman, geschrieben von einem Zweiundzwanzigjährigen, sowohl das Motiv des sprachlichen Mediums an wie das des Narziss, jener mythischen Projektionsfigur, die Handke fasziniert als die Verkörperung des Selbst-Beteiligt-Seins im Blick auf die Welt und im Handeln seines Werks. In einer radikalen Neudeutung stellt er den Narziss an die Seite der mythischen Empörergestalten, neben Prometheus vor allem, und in eine Reihe mit Goethe und mit Kafka, eine kühne Inversion, mit der Handke übrigens der kritischen mythengeschichtlichen Rekonstruktion des Narziss bei Ranke-Graves viel näher kommt als jenes oberflächliche Klischee von der passiven Ich-Bezogenheit oder Politikferne des Narziss, wie es dem Autor bis heute an den Kopf geworfen wird.

Narziss als Empörergestalt

Wie politisch das Lesen und Schreiben des Narziss sein kann, haben nicht zuletzt die Jugoslawien-Erzählungen Peter Handkes bewiesen. Noch immer liest der Autor, wie im ersten Roman, die Welt durch die Fensterscheibe seiner Herkunft, in der sich das eigene Gesicht spiegelt, die Geschichte einer bedrängten slowenischen Familie in Österreich, die Kindheitserinnerung an den Vernichtungskrieg an der Grenze zu Slowenien, aber auch der Jugendtraum eines Jugoslawien, das den einzelnen südslawischen Völkern einen Zusammenhang gab und den "Leuten, die durch die Jahrhunderte Königlose, Staatenlose, Handlanger, Knechte gewesen waren", einen selbstbewussten Platz in der Welt ("Die Wiederholung", 1986).

Handke gegen die Medien

Es wäre Zeit, überhaupt einmal zu lesen, was der "Narziss" und "Elfenbeinturmbewohner" geschrieben hat, der von der Weltpresse für unzuständig erklärt wurde, sich in die Jugoslawien-Kriege einzumischen. Vielleicht würde man heute, mehr als zehn Jahre nach dem Erscheinen von "Winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien" (1996) und ohne die "Vermittlung" durch die "Medien" manches anders lesen, vielleicht würde man auch seine vielen Lektürehinweise auf geografische, historische und politische Analysen, wie er sie in "Rund um das große Tribunal" (2003) gibt, als heute noch relevant entdecken. Josef Haslinger würde staunen, wenn er bei seiner "Hausdurchsuchung im Elfenbeinturm" bei Handke nicht nur das finden würde, was sein Vorurteil vom Narziss dort vermutet, sondern politische Bücher, die von der heutigen Heiligen Allianz in der Welt außerhalb des Turms verfemt sind.

Ich fand den Mut einiger Klassikerinnen der österreichischen Gegenwartsliteratur bewundernswert, wenn sie Handke nie aus ihrer Huld fallen ließen und nie die Klischees vom "Elfenbeinturm" oder vom unpolitischen "Narziss" für bare Münze genommen haben, als wären diese Wörter nicht von Handke selber vor vielen Jahren ironisch und dialektisch gewendet ins Spiel gebracht worden.

Welch eine Noblesse, mit der zum Beispiel Elfriede Jelinek das verketzerte Jugoslawien-Stück "Die Fahrt im Einbaum oder das Stück zum Film vom Krieg" der Lektüre empfahl, welch schöne Empörung über die Medien, die sich ein politisches Richteramt anmaßten, bei Marie-Thérèse Kerschbaumer, und unvergesslich die sich exponierende Handke-Verteidigung der Marlene Streeruwitz, als die mediale Verachtung des Dichters einen einsamen Höhepunkt erreicht hatte.

Der Autor ist Professor für Germanistik an der Universität Salzburg. In der Reihe "rororo Monographien" ist von ihm soeben der Band über Peter Handke erschienen.

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