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6. Oktober 1981: Die Sonne steht am Zenit und der Ägypter Anwar Sadat fühlt sich am Höhepunkt seiner Macht. Da explodiert eine Handgranate, und Maschinengewehrsalven rattern. Ein Augenzeugenbericht.

Noch immer liegt ein seltsamer Schleier des Unwirklichen über dem Sterben des Ägypters Anwar Sadat. Erschossen, hingerichtet unmittelbar vor unseren Augen - und doch kaum bemerkt. Wie kein anderes politisches Attentat vollzog sich der Mord am Kriegshelden und Friedensnobelpreisträger im vollen Licht der Weltöffentlichkeit - und doch für alle, die mit dabei waren, im Grenzbereich der Wahrnehmung: Ohne jede Vorwarnung - und erstickt vom Lärm und von der Bilderflut einer pompösen Militärparade.

Es ist der 6. Oktober 1981: ein Tag des Stolzes für Ägypten. Auf den Tag genau acht Jahre zuvor haben Sadats Armeen in einem beispiellosen Überraschungsangriff den Suezkanal überschritten und ein Stück jenes Landes zurückerobert, das ihnen Israel 14 Jahre zuvor genommen hatte. Die Militärparade draußen in der Vorstadt Kairos ist das jährlich wiederkehrende Symbol dieser Erlösung aus der Demütigung - aber für zu viele Ägypter auch Erinnerung an das, was dann folgte: Die Demütigung eines Separatfriedens mit Israel, die Isolation in der arabischen Welt, der Kniefall vor dem "gottlosen" Westen.

Keine kugelsichere Weste

Anwar Sadat selbst weiß um die islamischen Glutnester in seinem Land. Vier Wochen vor diesem 6. Oktober hat er sich mit einer Massenverhaftung politisch Luft zu verschaffen versucht - und wohl das Gegenteil bewirkt. Jetzt steht er - umgeben von Militärs, Ministern und Religionsführern - vor uns auf der Ehrentribüne. Im letzten Augenblick hat ihm der englische Schneider eine neue Paradeuniform angeliefert - sie lässt keinen Platz für eine kugelsichere Weste. Eine perfekte Selbstinszenierung, nicht ganz ohne Lächerlichkeit: Mit jedem salutierenden Kommandanten vorbeiziehender Einheiten reißt es den Präsidenten hoch zum Gruß.

Gut zwei Stunden schon rollen Kanonen, Raketen und Panzer, fliegen Helikopter und Kampf-Jets aus aller Herren Länder an uns vorbei und signalisieren die Überwindung der alten Abhängigkeit von Moskau. In den Reihen hinter dem Präsidenten schwätzen Sadats Hofstaat, geschniegelte Militärattaches und eine übergewichtige Generalität. Den Salon der Damen schützen Glaswände vom ohrenbetäubenden Dröhnen, vom quälendem Gestank der Dieselmotoren und dem Kreischen des Kommentators, der die vorbeiziehenden Waffengattungen erklärt.

Leibwache steht abseits

Die Sonne steht am Zenit, als fünf französische Mirage mit höllischem Donner im Tiefflug ihre bunten Rauchfahnen über den Himmel legen. Stehend blickt Anwar Sadat zu ihnen hinauf und legte seine Mütze auf die Brüstung. Genau in dieses Toben hinein kommt der Tod: Da ist der Lkw, der aus der Kolonne ausbricht; der Mann, der vom Beifahrersitz springt, der Tribüne entgegenläuft, eine Handgranate zündet - und zu schießen beginnt. Drei Komplizen springen von der Ladefläche, reißen die Maschinengewehre hoch und feuern.

Erst das Chaos stürzender Menschen zwingt unseren Blick auf den Schauplatz und filtert das Stakkato des MG-Feuers, die Schreie Verletzter und Sterbender, das Krachen berstender Stuhlreihen aus dem gewaltigen Dröhnen heraus. Dann ist nichts mehr zu sehen: Alle Ehrengäste liegen am Boden - schutzsuchend die einen, verwundet und tot die anderen. Als die Leibwache des Präsidenten zu schießen beginnt, ist längst alles geschehen - zur Demonstration seiner pharaonischen Furchtlosigkeit hatte Sadat sie aus seiner Nähe verbannt.

Alle Herrscher abschrecken

12.40 Uhr ist es, als der Hubschrauber mit dem sterbenden Präsidenten aufsteigt, als Sirenen heulen, Sanitätsfahrzeuge herbeirasen, drei der vier Attentäter verwundet in Fesseln liegen (der vierte wird erst nach Tagen gestellt), als das TV-Bild abbricht und Korangebete ertönen. Erst sieben Stunden nach dem Attentat gibt Vizepräsident Mubarak den Tod bekannt - 21 Ärzte haben das Bulletin unterschrieben.

Der 24-jährige Leutnant Khaled al-Islambuli, radikal-islamischer Hauptverschwörer, nennt später vor Gericht sein Motiv: Er habe zu Gott gebetet, ihm "die Ehre zuteil werden zu lassen, den Tyrannen für seine Sünden zur Rechenschaft zu ziehen". Und: Er wollte "alle Herrscher abschrecken, die noch kommen mögen". Fünf Wochen vor dem Attentat, am 5. September, hatte Sadats Geheimpolizei auch seinen Bruder abgeholt - an diesem Tag schrieb er in sein Tagebuch: "Das höchste Glück des Gläubigen ist es, für die Sache Gottes zu töten oder getötet zu werden."

Stille Mitwisserschaft?

Wie Islambuli, dessen Haltung bekannt war, zur Parade abkommandiert werden konnte? Wie er drei Komplizen und scharfe Munition einschmuggeln konnte? War Schlamperei oder doch stille Mitwisserschaft im Spiel? Die Fragen sind nie endgültig beantwortet worden. Zeugen wollten gehört haben, wie der Mörder Sadats der Elite Ägyptens zugerufen habe: "Geht mir aus dem Weg, ich will nur diesen Hurensohn!" Ob damit nur die Gerüchte über eine viel weiter reichende Verschwörung eingedämmt werden sollten? Wer weiß es?

Fünf Tage später stehen wir erneut dort, wo der Präsident ermordet wurde. Kaum einen Steinwurf von der Todestribüne entfernt wird Anwar Sadat begraben - inmitten einer Szenerie, die nicht weniger unwirklich ist, als es sein Sterben war. Knapp 800 Meter der Paradestrecke werden jetzt zum Schauplatz staatlich-kontrollierter Trauer: Hinter Stacheldrahtzäunen und dem Wall tausender Polizisten nimmt die Elite der Weltpolitik Abschied von Ägyptens Präsidenten, dessen beispiellose Friedensinitiative auf tragische Weise kraftlos blieb - und der das westliche Ausland und den Feind Israel mehr erwärmt hatte als das eigene Volk.

Mit den Todesschüssen des 6. Oktober 1981 endete auch die ungewöhnliche Nahbeziehung des Ägypters zu Österreich, zu Bruno Kreisky und einer Handvoll Österreichern, die - wie der Schreiber dieser Zeilen - irgendwann ein Teil dieser Nahbeziehung geworden waren.

Unvergesslich die Stunden in Kreiskys Privathaus - und die Freude, als sich Sadat 1976 überreden ließ, erstmals einen israelischen Journalisten zum Interview zuzulassen - und ihn sogar nach Kairo einzuladen.

Unvergesslich die gemeinsame Fahrt durch den eben wiedereröffneten Suezkanal im Juni 1976 - in Strecksesseln an Deck des alten Königsschiffs "Mahroussa", vorbei an der Trümmerlandschaft aufgerissener, zerborstener Bunker an den Kanalufern, den Resten der einst unüberwindbar scheinenden israelischen Front.

Vom Feind geliebt

Unvergesslich die Nacht des 19. Novembers 1977 am Flugfeld Tel Aviv, als Sadat die Barriere der Herzen durchbrach und Israel besuchte. Als ein Paradoxon, ein Wunder Wirklichkeit wurde. Als sich die Fahnen vor dem Feind verneigten. Als Böller donnerten - die ersten Schüsse im dreißigjährigen Krieg zwischen Israel und Ägypten, die nicht gegeneinander, sondern füreinander abgegeben wurden. Als Politiker und Generäle - Todfeinde bisher - einander in die Arme fielen und selbst die abgebrühtesten Augenzeugen von Emotionen überwältigt wurden.

Unvergesslich auch jedes persönliche Wiedersehen - in Kleßheim und Fuschl, im Helenental und dann in Kairo. Als sich der Ägypter beim Staatsessen für Bruno Kreisky vom Autor dieser Erinnerungen spontan eine herzliche Tischrede für seinen Freund und Bundeskanzler erbat - auf Deutsch. Eine Sprache, die er in britischer Kriegsgefangenschaft aus Büchern erlernt hatte und auf deren Erinnerungsreste er immer wieder stolz war. Selbst die blutdurchsetzte Paradeuniform, in der er sein Leben beendete, sollte alten deutschen Vorbildern entsprechen.

Der "Sinn" politischer Morde

Mit Anwar Sadats Tod bekam die alte Frage nach dem "Sinn" politischer Morde neue Brisanz. Sie hat seither nichts von ihrer Aktualität verloren. Erschreckend lang ist die Liste jener Gesprächspartner, die irgendwann zu Opfern politischer Attentate wurden - und dafür mit ihrem Leben, zumindest aber mit ihrer Gesundheit bezahlten: Der Papst in Rom und Ronald Reagan in Washington; Zia ul-Haq, Pakistans Militärmachthaber, im Hubschrauber; Olof Palme und Yitzhak Rabin auf offener Straße; Aldo Moro im "Volksgefängnis" der roten Brigaden; Indira Gandhi, von eigenen Leibwächtern ermordet - und der jordanische Premier Wasfi Tell, auf den Stufen des "Cairo Sheraton" erschossen.

Hat ihr Tod etwas "bewirkt"? Bringt der politische Mord an Einzelnen eine Veränderung? Eine Antwort darauf ist schwierig. Sie könnte heißen: In Demokratien bleibt die Auswirkung von Attentaten sehr begrenzt - sie haben kaum Veränderungskraft. In autoritären Regimen ist die Wirkung weit stärker. Macht, die nicht auf Institutionen ruht, ist zerbrechlich. Aber selbst das stimmt nur bedingt - wie Gegenbeispiele zeigen: Nur 48 Stunden vor einem vereinbarten Gespräch mit Saudi-König Faisal kommt 1971 die Todesnachricht - ermordet vom einem Familienmitglied. Die längst festgelegte Thronfolge ist dadurch nicht zu erschüttern.

Und umgekehrt: Am Höhepunkt des jordanischen Bürgerkriegs - des "Schwarzen September" 1970 - verrät ein palästinensischer Guerillakämpfer, der später weltberühmt werden sollte, bei einer nächtlichen Begegnung: "Wir können unser Unrecht in die ganze Welt hinausschreien, niemand wird uns zuhören. Dann aber werden wir jemanden in den Straßen von Paris, New York und Tel Aviv töten. Und die Welt wird aufhorchen und sagen: "Warum musste der sterben?"

Die Geschichte hat ihm auf bestürzende Weise recht gegeben.

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