Der Traum vom Fliegen

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Jürg Amann verbindet die Geschichte des Fliegens mit einer interessanten Romanhandlung.

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Jürg Amann verbindet die Geschichte des Fliegens mit einer interessanten Romanhandlung.

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Wahrscheinlich ist er so alt wie die Menschheit, der Traum, sich in die Lüfte zu erheben und die Welt aus der Vogelperspektive zu betrachten. Wir haben längst vergessen, wieviele Mühen und Opfer es bedurfte, bis es zum "Stau in den Lüften" kommen konnte. In den riesigen Jets fühlen wir uns nicht anders als in einem großen Autobus, längst ist der Zauber des Fliegens in Hektik und alarmierenden Meldungen über Umweltschäden durch den Flugverkehr untergegangen.

Der Schweizer Autor Jürg Amann setzt sich im Roman "Ikarus" mit den grandiosen und tragisch-lächerlichen Versuchen von Menschen auseinander, die ihr Leben mit der Entwicklung flugtauglicher Objekte hinbrachten. Das Ergebnis seiner Studien hat er mit einer autobiographischen Vater-Sohn-Beziehung zu einer leisen und lesenswerten Geschichte verwoben. Vater und Sohn sind besessen von der Idee, ein Flugzeug zu entwickeln. Ihre unermüdlichen, technisch immer schwierigeren Experimente werden von unzähligen Rückschlägen begleitet. In der griechischen Mythologie konstruiert Dädalos für sich und seinen Sohn Ikaros Flügel, um aus der Enge Kretas und König Minos zu fliehen. Ikaros nähert sich in jugendlichem Übermut der Sonne zu sehr und stürzt ins Meer.

Im Roman ist es der Sohn, der den Vater bei den wagemutigen Versuchen verliert, aber dessen geistiges Erbe pflegt und weiterexperimentiert. Angespornt von den Erkenntnissen und Ratschlägen des Vaters, verwirklicht er den gemeinsamen Traum.

Dem vielfach preisgekrönten Autor Jürg Amann gelang mit seinem knappen "Logbuch-Roman" eine psychologisch und naturwissenschaftlich packende Geschichte. Eine kühle Betrachtung naturwissenschaftlichen Fortschritts, der in den Köpfen der Menschen eine umbremsbare Eigendynamik entwickelt. Ohne die Gefahren wirklich realistisch einzuschätzen, ist es die Idee, sich "über die Natur" zu erheben, die ihn zu immer neuen, im Rückblick manchmal lächerlichen, manchmal aber höchst effizienten Experimenten treibt. Der Forscherdrang wird durch genaue Naturbeobachtung angeregt, die alle wichtigen Impulse liefert. Die Veränderung der Perspektiven, der Verlust realistischer Selbsteinschätzung und Risikoabschätzung als Schattenseiten des Fortschritts werden von den Pionieren nicht wahrgenommen. Die Lust am Neuen, am Experiment, am "Schöpferischen" treibt sie.

Jürg Amann vermeidet es, diese Entwicklungen zu bewerten. Er beschreibt Natur und Technik ebenso bewundernd wie nüchtern, und er entläßt den Leser mit Respekt vor all jenen, die sich ihre kühnen Träume stellvertretend für die Menschheit verwirklichten. Die kleinen, liebevoll ausgewählten Fotos und Illustrationen zum Thema Fliegen unterstreichen den phantasievollen Ausgangspunkt großer technischer Errungenschaften und lassen die Gedanken des Lesers in viele Richtungen und Höhen fliegen. Amann gelingt es damit, die Symbiose zwischen Naturbeobachtung, Phantasie und Technik, die durch Umweltzerstörung und bedrohliche Auswüchse technischer Errungenschaften immer stärker angezweifelt wird, wieder herzustellen. Jenseits der heute vielerorts kritisierten "bösen" Technik vermittelt der Roman den Zauber allen menschlichen Strebens nach Verständnis des Bauplans der Welt, ob er sich in der Kunst oder Technik manifestiert.

Daß moderne Naturwissenschaftler diesen Zauber genauso verspüren wie die Flugpioniere, beweisen zwei Aussagen aus jüngster Zeit. Der aus Österreich vertriebene Physiker Walter Kohn, der kürzlich mit dem Chemie-Nobelpreis ausgezeichnet wurde, berichtete: Die Entwicklung seiner mathematischen Formel, die heute höchst gewinnbringend in der chemischen Industrie genutzt wird, sei wie das Komponieren einer Symphonie für einen Musiker gewesen. Und Herbert Pietschmann, Ordinarius für theoretische Physik in Wien, erzählt in seiner Einführungsvorlesung von der anhaltenden Verwunderung über technische Errungenschaften: Bei jedem Flug betrachte er es trotz seines physikalischen Wissens als Wunder, daß das schwere Flugzeug sich wirklich in die Lüfte erhebt.

Ikarus Roman von Jürg Amann, Arche Verlag, Zürich 1998, 149 Seiten, geb., öS 248,

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