Der Verfall sichtbar gemacht

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Jeder Akt einer historischen Konservierung trägt auch eine Wertung in sich. Üblicherweise entscheidet der Architekt oder ein Techniker den Zeitpunkt, in oder ab dem die Geschichte sozusagen angehalten oder auch wiederhergestellt werden soll. Dass das nicht der einzige Weg ist, um mit der Vergangenheit umzugehen, wird am Beispiel der Kirche Sant Francesc in Santpedor, Spanien, sichtbar.

Im 18. Jahrhundert wurde das Kloster in Santpedor, einer kleinen katalanischen Stadt, von Franziskanermönchen errichtet. 1835 wurde es verlassen, danach begann ein rapider Verfall der Gebäude, der mit dem Abbruch des Klosters im Jahre 2000 endete. Nur die Kirche Sant Francesc blieb als Ruine erhalten. Als man 2003 begann, sich für die Reste der Mauern zu interessieren, war die Substanz des Bauwerkes - das eine eher einfache Konstruktion aufwies - in einem katastrophalen Zustand. Der Verfall betraf vor allem Elemente wie das Dach und die tragenden Gewölbebögen. Das ursprünglich mit Ziegeln bedeckte Dach war eingesunken, der Chor war bereits verschwunden, die Gewölbe des Schiffes und der Kapellen waren am Zusammenbrechen beziehungsweise hatten keine Tragfähigkeit mehr. Die Kirche hatte - von außen betrachtet - nur mehr die Aufgabe, als Ruine die historische Stadtsilhouette zu erhalten, wenn man sich vom Süden her der Stadt näherte.

Das Innere der Kirche beherbergte - abgesehen vom fortgeschrittenen Verfall - aber bemerkenswerte räumliche Qualitäten. Auf Grund des eingesunkenen Daches und der zerbröckelnden Decken war der Raum von einer erstaunlichen Fülle an natürlichem Licht durchflutet. Der Innenraum, der im Originalzustand sicherlich nicht allzu viel Licht erhalten hatte, präsentierte sich aufgrund des durch die Zerstörung ermöglichten neuen Lichteinfalls, in einer majestätischen Pracht. Die Obergeschoße waren allerdings dadurch, dass die dazugehörenden Stiegenhäuser im abgerissenen Teil des Klosters gelegen waren, ohne jede Zugangsmöglichkeit. Zwei der Fassaden der Kirche waren auch keine wirklichen Außenwände, sondern Innenseiten der ehemaligen Klostergebäude - diese waren aber schon lange nicht mehr vorhanden.

Bewahrung der Baugeschichte

Unter der Leitung von David Closes Architects wurde ein Projekt, das die Kirche in einen Veranstaltungssaal und Ort für multifunktionale Kulturveranstaltungen verwandeln sollte, entwickelt. Das Interessante bei diesem Vorhaben war, dass der Zerstörungs- und Verfallsprozess, den die Kirche erlitten hatte, sichtbar bleiben sollte. Der Zahn der Zeit und seine Spuren sollten nicht versteckt werden. Also eigentlich keine Rekonstruktion oder Renovierung, sondern eine Weiterbenutzung unter Einbeziehung der momentanen Tatsachen und Möglichkeiten. Das Vorhaben bezog die ursprünglichen Dimensionen des Kirchenschiffes genauso wie den unnatürlichen Lichteinfall mit ein. Es ging eher darum, dass die Intervention das alte Gemäuer stabilisieren und die neuen Elemente sich sichtbar vom Alten abheben sollten. Die nun ausgeführte "Renovierung“ lässt zu, dass sowohl die "historischen Wunden“ im Bau gelesen werden können, wie auch dass die zeitgemäße Sprache der neu hinzugefügten Teile nicht unterdrückt wird. So wurden die Funktionsräume, die zum Beispiel die vertikale Erschließung oder das technische Equipment beinhalten, außerhalb des Kirchenvolumens angesiedelt. Das hatte die Absicht, die Geschlossenheit, die Wucht und die Wirkung des Innenraumes nicht zu stören. Die nun außen angebrachten neuen Stiegen und Zugangsrampen bieten eine ungeplante und unerwartete Möglichkeit, das Gebäude zu umrunden und damit erstaunliche, neue Perspektiven und Blickwinkel zu erleben. In der nahen Zukunft soll die letzte Phase der Rekonstruktion durch die Installierung eines historischen Archivs in den oberen Ebenen an der Südseite der ehemaligen Kirche abgeschlossen werden.

An diesem Beispiel wird sichtbar, dass hier keine Rekonstruktion eines geschichtlichen Moments oder Augenblickes stattgefunden hat. Vielmehr die Bewahrung der Geschichte an und für sich als eine vollständige und kontinuierlich ablesbare, prozesshafte Tatsache. Die Beibehaltung der Wunden und Narben des Gebäudes sind ein Versuch der Wahrung der Architekturgeschichte, mit all ihrer Vergangenheit, nicht nur der zeitlichen Historie. Die neuen Elemente mit ihrer zeitgemäßen, modernen Sprache führten zu zweierlei Ergebnis: Erstens, eine Ehrlichkeit zur Realität (nichts bleibt verborgen) und zweitens ein klares Ablesen des Prozesses, den die Architektur vom 18. Jahrhundert bis in die heutige Zeit mitgemacht hat. Der Eingriff erhält das historische Erbe des Bauwerkes und bereichert gleichzeitig den Wert der alten Kirche durch eine moderne Sprache.

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