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Seit Jahrzehnten steigt die Zahl von Anorexie- und Bulimie-Betroffenen in Österreich. Wie funktionieren diese Krankheiten, die das Leben junger Mädchen zerstören?

"Mädchen, iss mal was!“, ist wohl die erste Reaktion, wenn man das Bild einer Magersüchtigen sieht - und schlicht keine Ahnung hat, dass man es mit der schwersten Krankheit zu tun hat, die die Psychiatrie kennt - geschweige denn, wie man damit umgehen soll.

Rund 2500 Mädchen zwischen 15 und 20 Jahren leiden in Österreich an einer ausgeprägten Magersucht, mindestens 5000 in diesem Alter an einer sich entwickelnden Anorexie - das sind zwanzigmal so viele wie vor 50 Jahren. Von Bulimie dürften 6500 Menschen zwischen 20 und 30 Jahren betroffen sein. Und es werden immer mehr.

Auch wenn beide Krankheiten in der Psychiatrie als "Essstörungen“ definiert werden, tragen sie zusätzlich die Bezeichnung "stoffungebundene Süchte“ - sie verhalten sich in Verlauf und Behandlung wie schwere Suchtkrankheiten. Und zeigen Betroffenen und Angehörigen ihre volle Härte. Die Krankheiten entstehen meistens bereits in der Kindheit und nehmen in der Magersucht ihr erstes Ventil. Grundsätzlich geht es um Autonomie und Kontrolle. "Es ist oft ein Problem in der Familie, das kann ein Übermaß an Liebe und Kontrolle aber auch Missbrauch sein. Die jungen Mädchen beginnen Kontrolle über das letzte auszuüben, was sie noch kontrollieren können: ihren Körper.“, so Dr. Peter Weiss, Primar am Krankenhaus der Barmherzigen Schwestern in Wien. "Natürlich spielen auch Rollenerwartungen mit - die ES sind ein Phänomen der Verwestlichung und des Wohlstands - in der Dritten Welt kaum bekannt.“

Die Mädchen wollen perfekt sein. Und erreichen ihre Ziele erst mit Diäten, Fasten und Sport bis zur Erschöpfung. Wenn das nicht mehr reicht, helfen Medikamente wie Abführmittel weiter. Sie möchten das übermächtige Hungergefühl kontrollieren und merken dabei gar nicht, wie sehr sie selbst zur Krankheit werden. Sie wiegen sich 15-mal am Tag, zählen ständig Kalorien, denken nur ans Essen. Die Zahlen auf der Waage werden zum größten Freund - und Feind. Die Kontrolle wird zum Zwang. Mit einem großen Unterschied: Bei der Anorexie wird das Hungergefühl "besiegt“ - bei der Bulimie gewinnt immer wieder der Hunger, der sich in Fress- und Brechanfällen entlädt. Der Vorgang verselbstständigt sich und die Anfälle sind für die Betroffenen nicht mehr willentlich kontrollierbar. Das Essen ist ihr Suchtmittel geworden. Bulimiker beißen sich beim öffentlichen Essen auf die Lippen, zittern am Tisch wie ein Alkoholiker vor offener Flasche.

Nicht nur Opfer

Die - meistens - Mädchen sind dabei nicht nur Opfer. Bulimiker oder Magersüchtige führen oft ein Terrorregime innerhalb der Familie. Ihre Kontrolle wird immer weiter ausgeweitet. Nicht nur was das Essen betrifft. Betroffene wollen kontrollieren, sogar wie man sie anblickt oder anspricht. Die Betroffenen reagieren sogar auf falsch verwendete Verben mit Zornausbrüchen. Sie haben drei Wochen nichts gegessen, schreien aber, dass ihnen fast die Augen rausfallen. Sonst bringen sie mit der Zeit alles mit, was für einen Süchtigen typisch ist: Schwarz-Weiß-Denken, Verleugnung - ja bis hin zur Beschaffungskriminalität. Bulimiker verdrücken bei einem Fressanfall bis zu 15.000 Kalorien und sind manchmal finanziell gezwungen, Lebensmittel zu stehlen. Typischerweise folgen auch Medikamenten- oder Alkoholmissbrauch.

Die Sterberaten sind übrigens so hoch wie nirgends in der Psychiatrie - bei Magersucht variiert sie von zehn bis 20 Prozent. Und hängen mit einer Frage zusammen: wird behandelt?

Dabei verhungern die meisten Patienten nicht. Sie sterben an Suizid. Oder die Körper und die Immunabwehr sind so geschwächt, dass sie mit Infektionen nicht mehr fertig werden. Oft kommen auch Stoffwechsel- und Herzprobleme dazu. Sogar normalgewichtige Bulimiker haben wegen des Elektrolythaushaltes oft Rhythmusstörungen oder verkleinerte Herzen. Die Körper zehren ihre Muskeln auf, um sich am Leben zu erhalten. Und die Frage nach der Behandlung stellt sich für sie nicht: Sie haben ja alles unter Kontrolle.

Dabei ist die "Komorbidität“, also das parallele Auftreten von Krankheiten, in der Psychiatrie typisch. Das bekannte Henne-Ei-Problem. Was war zuerst da - die Sucht und dann das Abhängigkeitssyndrom oder zuerst die Persönlichkeitsstörung und dann die Sucht? Viele Forscher gehen von Letzterem aus. Bulimie und Magersucht sind oft nur ein Ventil für emotional instabile Persönlichkeiten, die mit Ängsten, Aggressionen und selbstverletzendem Verhalten einhergehen. Statistiker gehen von über 50 Prozent aus, bei denen beide Krankheiten parallel auftreten. Die Mädchen ritzen sich, bis Blut fließt, oder schlagen mit dem Kopf gegen die Wand. "Borderline“, diese Bezeichnung wurde für die schwierige Diagnose solcher Betroffener gefunden, die über die "Grenzlinie“ von neurotischem zu psychotischem Symptomniveau pendeln. Grundsätzlich sind Befunde in der Psychiatrie individuell: Mit einer Essstörung kommen meist andere Probleme mit. Und wer eine Suchtkrankheit hat, steht sein Leben lang in Gefahr, wieder süchtig zu werden. Bei 40 Prozent der ES-Betroffenen spielen beide Krankheiten zumindest phasenweise eine Rolle: Bulimie oder Magersucht.

Besessen vom Essen

Gerade als Kinder Magersüchtige lernen ihre Sucht in einer Bulimie zu verstecken, die oft sehr spät erkennbar ist, wenn schwere körperliche Schäden bereits passiert sind. Bulimiker führen oft ein nach außen normales Leben. Sehen gut aus, sind extrovertiert, haben Freunde. Durch das ständige Erbrechen finden sich zwar Zeichen der Mangelernährung, wie kaputte Nägel, Zähne und geschwollene Speicheldrüsen (die Bulimie-Backen), diese werden nach außen aber kaschiert. Im Verstecken ihrer Sucht sind sie wahre Meister. Wer ihnen nahekommt, lernt sie dann ganz anders kennen. Unkontrollierte Zornausbrüche, abwertendes Verhalten, ständige Schuldvorwürfe. Sie projizieren ihren Selbsthass auf die Menschen, die ihnen am nächsten sind. "Es ist eine Krankheit und die Patienten empfinden keine Empathie“, so die Therapeuten der Beratungsstelle für Essstörungen der Stadt Wien. Die Betroffenen haben oft massive Beziehungsängste, missbrauchen Angehörige als Ventil. Tage und Wochen werden wie Stundenpläne geplant, Treffen mit Freunden so in das Suchtsystem integriert. Stichwort Co-Abhängigkeit: Freunde oder Familie sind in das Spiel miteinbezogen. Entweder, weil sie aus Furcht wegschauen und die Sucht verharmlosen oder weil sie sich zu sehr verantwortlich fühlen. Also dem Abhängigen keinerlei Grund geben, etwas gegen seine Sucht zu unternehmen.

Scham ist massiv

"Die Verleugnung und die Scham ist massiv - wobei wir heute zwei Drittel der Patienten helfen können“, so Dr. Weiss. Dabei sind Rückfälle normal. "Sie dürfen einer echten Bulimie-Kranken auch in Behandlung zumindest ein Jahr nicht über den Weg trauen“, so der einfache Rat der Beratungsstelle. Die Sucht ist stark. Nach eigener Beschreibung umgibt die "Ana“ die Betroffenen wie eine harte Schale - wer sie anrührt, wird oft mit Zorn bestraft und verteufelt.

Das kann furchtbar enden. Aus einem Obduktionsbericht einer "Mia“, wie sich die (oft überzeugten) Bulimikerinnen selbst nennen: Die Frau wurde auf der Toilette gefunden. Ihr Magen war geborsten; Blut und Essen verteilten sich im Körper. Bei der Autopsie fand man heraus, dass ihr Magen vom Rippenbogen bis zum unteren Beckenknochen geweitet war und einen großen Riss aufwies. Der Magen war bereits "tot“, bevor er geborsten war, weil er sich bei jedem Fressanfall weitete und Blutgefäße abquetschte. Ihr Herz war klein und zeigte alle Symptome eines "hungernden Herzens“ - zerstörte Muskeln, tote Zellen. Zusätzlich wies sie eine Lungenentzündung auf. Die Todesursache war aber nicht die Magenwandperforation, sondern die natürliche Reaktion des Körpers. Als der Magen zerbarst, antwortete er typisch: Die Blutgefäße wurden geweitet, der Blutdruck fiel rapide ab, die Frau wurde ohnmächtig. Der Pulsschlag des geschwächten Herzens verlangsamte sich, bis es dann ganz aussetzte.

Anorexie und Bulimie

Der Begriff "Anorexis“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet "frei von Begierde, frei von Hunger sein“. Anorektikerinnen richten ihr gesamtes Streben auf die Unterdrückung des Hungertriebes. Die irrationale Furcht davor, dick zu werden, führt zu einem streng ritualisierten Umgang mit Nahrung: So werden nur noch ganz bestimmte Dinge gegessen oder die Nahrungsaufnahme auf ganz bestimmte Zeiten beschränkt. Mehr als 40 Prozent der Magersüchtigen leiden gleichzeitig noch an bulimischen Symptomen.

Auch "Bulimia“ entstammt dem Griechischen und bedeutet "Stier- oder Ochsenhunger“. Bei einem "Essanfall“ nehmen Betroffene bis zu 15.000 Kalorien zu sich.

Auch hier handelt es sich um eine psychische Störung. "Fressperioden“ wechseln sich mit Phasen der "Entleerung“ durch Erbrechen ab. Meist stellt der Ess-Brech-Kreislauf ein Ventil für Frustrationsgefühle, Enttäuschungen, Ärger, Wut, Einsamkeit und Langeweile dar. Ess-Brech-Sucht tritt bedeutend häufiger auf als Magersucht.

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