Der Wunsch, Indianer zu Werden

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Was wäre, wenn ?Mit dieser Frage beginnen Geschichten.

Was wäre, wenn am 6. September 1908 an Bord des "Großen Kurfürsten", der am 16. in New York ankommen soll, nicht nur (wie in Wirklichkeit) Karl May, sondern auch Franz Kafka gewesen wäre?

"Er würde sehr schmal an der Reling stehen und kotzen. Der ältere Herr und die Dame würden sich ihm von achtern nähern. Der Wind würde wehen, die Wellen würden wogen, die Möwen würden lachen. Eine Sirene stieße einen klagenden Ton in den Abend."

So beginnen Geschichten. Und die Geschichte, die Peter Henisch vor achtzehn Jahren für seinen Roman "Vom Wunsch, Indianer zu werden" erfunden hat, bringt Franz Kafka und Karl May zusammen. Das Paar wird Kafka zu sich in die Kabine mitnehmen und den jungen Mann dort mit Cognac stärken. Die beiden Herren haben sich einander noch nicht als Schriftsteller vorgestellt, als Kafka seinen kurzen Text "Wunsch, Indianer zu werden" auswendig zitiert. Sein älteres Gegenüber fragt ihn, wie er auf diesen Wunsch komme.

"Sie werden lachen, sagte der junge Mann, dieser Text ist von Karl May inspiriert. Zwar habe ich, als ich ihn geschrieben habe, gerade Kleist gelesen, vor ihm auf den Knien liegend. Aber da ist mir, gewissermaßen von hinten, Karl May nahegetreten. Das war dann gewissermaßen eine Regressionsphase." Woraufhin Kafka seinem Gegenüber Old Shatterhand als Identifikationsfigur auslegt -ohne zu wissen, wem er diese Auslegung gerade darbietet.

Faust und Axt

In diesem ebenso witzigen wie geistreichen Setting, das Figuren, Tatsachen, Texte und Fantasie zusammenschüttelt, lädt Peter Henisch die Bandbreite der Literatur an Bord eines Schiffes. Da ist einerseits der Autor der "Regressionsphase", da ist andererseits der Autor, der meint, Literatur dürfe nicht nur wohl-,sondern müsse auch wehtun. Aber eben nicht wie die Faust des Old Shatterhand, sondern wie die berühmte "Axt für das gefrorene Meer in uns".

So sehr sich diese Männer in ihrer Literatur auch unterscheiden, scheint sie doch einiges zu verbinden (und der Ort des Zusammentreffens, das Schiff, unterstreicht das): die Sehnsucht nach Freiheit, die Sehnsucht nach fernen Ländern, der "Wunsch, Indianer zu sein".

Peter Henischs Roman, der soeben neu aufgelegt wurde, zeigt, was Literatur ist, indem er eine Antwort versucht auf die Frage: Was wäre, wenn ...? Und dazu passt, dass die Begegnung von May und Kafka eines Tages zu dem Vorschlag des Älteren an den Jüngeren führt: "Wir könnten so tun, als ob wir einen Amerikaroman im Sinn hätten."

Das nächste BOOKLET erscheint am 5. April 2012 als Beilage in der FURCHE Nr. 14/12

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