Der Zahn der Zeit nagt am Papier

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Die UNESCO hat Schätze der Nationalbibliothek zum Weltkulturerbe erklärt.

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Die UNESCO hat Schätze der Nationalbibliothek zum Weltkulturerbe erklärt.

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Vor fast 2000 Jahren, zur Zeit des Kaisers Augustus, faßte der Arzt Dioskurides in Kleinasien sein Wissen über die Heilkräuter und ihre Wirkung in Wort und Bild. Rund 500 Jahre später, um 512, malte ein Kopist Blumen und Texte getreulich ab und gestaltete aus ihnen eine Prachthandschrift, gewidmet der byzantinischen Prinzessin Juliana Anicia zum Dank für ihre Hilfe nach der Zerstörung Konstantinopels durch ein Erdbeben.

Nach Julianas Tod kam die Handschrift als Nachschlagewerk in ein Spital, Ärzte aus dem ganzen Mittelmeerraum fügten ihre Randbemerkungen in Latein, Griechisch, Arabisch, Hebräisch hinzu, um ihre Erfahrungen mit den gezeigten Kräutern festzuhalten, und so dokumentiert das Werk wie kein zweites seine Entwicklung von der Entstehung über die Funktion als "Bilderbuch" für die Prinzessin bis zum Gebrauchsgegenstand in der antiken Krankenpflege.

Im Jahr 1569 vermittelte der kaiserliche Gesandte an der Hohen Pforte, Augiar Ghislain de Busbecque - der auch Tulpen und Flieder aus der Türkei nach Mitteleuropa gebracht hatte - den Ankauf der Handschrift durch die Hofbibliothek Kaiser Maximilians II. Seither ruht der "Wiener Dioskurides" in der Wiener Hof-, der heutigen Nationalbibliothek. Deren Bestand an griechischen Handschriften ist mit über 1.000 Manuskripten der größte Komplex dieser Art im deutschen Sprachraum und durch den vom Altmeister der Wiener Byzantinistik, Herbert Hunger, erstellten Katalog auch für den Benützer optimal erschlossen.

Nun wurde dieser Tage der "Wiener Dioskurides" gemeinsam mit der Schlußakte des Wiener Kongresses von 1815 aus dem Haus-, Hof- und Staatsarchiv in das Register des "World Memory Programm" der UNESCO aufgenommen. Wie das "World Heritage Programm" architektonische Kostbarkeiten erfassen soll - in Österreich bisher Schönbrunn, Hallstatt und die Altstadt von Salzburg -, so will das Memory-Programm die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf Dokumente lenken und mithelfen, sie über die Jahrhunderte zu sichern - vom antiken Papyrus über die mittelalterliche Handschrift und die neuzeitliche Zeitung bis zum digitalen Videodokument.

Die Schlußakte des Wiener Kongresses faßte das Ergebnis von neun Monaten Verhandlungen zusammen, mit denen der Schlußstrich unter zwei Jahrzehnte der Revolutions- und Napoleonischen Kriege gezogen werden sollte. Wien war vorübergehend das Zentrum der europäischen Diplomatie; hier wurde versucht, im Ausgleich zwischen Siegern und Besiegten, wie zwischen rivalisierenden Alliierten ein Gleichgewicht der Mächte aufzubauen, in dem Konflikte gewaltfrei gelöst werden konnten. Es hielt - über interne Krisen und Revolutionen hinweg - bis zum Krimkrieg 1856. Das besonders prunkvoll ausgestaltete österreichische Exemplar der Schlußakte zählt mit Recht zum Weltkulturerbe.

Dieses Kulturerbe zu sichern, ist das Bemühen der UNESCO, indem sie durch die Aufnahme berühmter Dokumente in ihre Register Aktivitäten der Staaten wie privater Sponsoren stimuliert. Restaurierung von Handschriften, Aufnahme von Zeitungen auf Mikrofilm, Herstellung von Facsimila, Reproduktion von Photographien sollen nicht nur die vorhandenen und weiterwachsenden Bestände erhalten, sondern auch dem wissenschaftlichen Benützer den Zugang erleichtern. Aber alles das braucht Mittel, die viel zu wenig vorhanden sind.

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