Der Zeit ein Ende machen

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Bakterien als Speichermedium für Kompositionen, Musik als Trost in der Trauer: Richard Powers erzählt in seinem neuen Roman "Orfeo" viel über die Musik des 20. Jahrhunderts.

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Bakterien als Speichermedium für Kompositionen, Musik als Trost in der Trauer: Richard Powers erzählt in seinem neuen Roman "Orfeo" viel über die Musik des 20. Jahrhunderts.

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Görlitz, Stalag VIII-A, 15. Jänner 1941. In der eiskalten Lagerbaracke 27 sitzen ein paar hundert Kriegsgefangene verschiedener Nationalität. In den vorderen Reihen die deutschen Offiziere. Ganz vorne steht Olivier Messiaen und spricht von jenem Augenblick, in dem die Endlosigkeit beginnt. Was immer das bedeuten mag. Nach den Worten setzen die Töne ein, Vogelklänge: Die Klarinette singt eine Amsel, die Violine eine Nachtigall. Während die Häftlinge vor Kälte schlottern, hören sie gebannt die Uraufführung von Olivier Messiaens "Quartett für das Ende der Zeit".

Musik gegen die Zeit wollte der Kriegsgefangene Messiaen schreiben und sich von den Zwängen des Metrums befreien, "vom dumpfen Pochen des Herzschlags und dem Ticken der Uhren". Die Linien seines Quartetts "laufen im Zickzack, sie wollen die Gegenwart bezwingen und der Zeit ein Ende machen." So erzählt es zumindest Richard Powers in seinem jüngsten Roman "Orfeo", und er schaut, bevor es zu dieser Uraufführung kommt, jenen vier gefangenen Musikern zu, die diese "kristallene Liturgie" proben: "Der gleichmütige Agnostiker, der finstere Atheist, der messianische Christ und der trotzkistische Jude kauern über den Stimmen dieses störrischen Stückes, im trüben Licht im Waschraum eines Gefängnisses, und finden durch die Kraft ihrer Konzentration die Antwort der Vogelstimmen auf den Krieg."

Powers erzählt die Uraufführung des Quartetts, die Klänge ebenso wie ihre Wirkung auf die Lagerhäftlinge, die frierend jene Töne hören, inmitten des Massenmordens, dem manche von ihnen bald zum Opfer fallen werden. Damit beschreibt Powers auch, was Musik in den dunkelsten Stunden bedeuten kann.

Geschichten, die Musik erzählt

Auch in seinen bisherigen Werken hat sich der amerikanische Autor mit Musik und ihrer Wirkung beschäftigt, etwa in "Der Klang der Zeit". In "Orfeo" wandert er mit seiner Romanfigur Peter Clement Els - einst außerordentlicher Professor an einem College, nun mit Bakterien bastelnder Pensionist - durch die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts. Zeitlebens war Els auf der Suche nach etwas Größerem, "das unter der altersmüden Oberfläche der Musik verborgen lag. Irgendwo hinter dem Vertrauten lagen Konstellationen von Noten, Folgen von Tönen, die den Verstand ans Ziel bringen konnten".

Warum kann bodenloser Schmerz so erhebend sein? Wie kommt es, dass man Musik als tröstend erleben kann? Ja, wie entsteht überhaupt die Wirkung von Musik? Wie sind Musik und Zeit miteinander verbunden bzw. was macht Musik mit der Zeit? Was bedeutet es, wenn es heißt, Musik verwische "die Trennungslinie zwischen Prophezeiung und Erinnerung"? Fragen wie diese begleiten durch den gesamten Roman und die beschriebenen Musikstücke machen unbändige Lust, sie auf der Stelle anzuhören und die Geschichte, die man in sie hineinliest oder aus ihr heraushört, mit jener zu vergleichen, die Powers anbietet.

Zweifel und Hoffnung in Tönen

Zum Beispiel Gustav Mahlers "Kindertotenlieder": Friedrich Rückert verfasste die Gedichte nach dem Tod seiner Kinder; Mahler vertonte sie, bevor er selbst Jahre später seine Tochter verlor. Powers beschreibt Hauch und Sonne in Mahlers Tönen, Raserei, Zweifel und Hoffnung. Seine Romanfigur Els kennt seit fünf Jahrzehnten diese Melodien, doch der Komponist und Musikexperte kann immer noch nicht sagen, wie sie gemacht sind. Das letzte der fünf "Kindertotenlieder" ende mit dem Trost aufs Jenseits, so der Tenor der Deutungen der Musikwissenschaft. Els aber "wusste mit vollkommener Gewissheit, dass das nicht stimmte. Mehr als das geschah in diesen letzten Takten, und jeder konnte es hören; man musste nur zuhören." Jahre vergingen, ohne dass er jemanden fand, der wie er hörte, dass im letzten Lied der Trost widerrufen wird -"und schließlich kam Els zum einzig möglichen Schluss: Musik sagte nur das, was das Ohr ertragen konnte."

Powers "Orfeo" erweist sich in Episoden wie dieser als Roman über die Rezeption von Musik. Was kann welches Ohr warum ertragen und darum hören? Doch Powers verbindet die Kunst auch mit Politik und brisanten Entwicklungen in den Naturwissenschaften. Und das geht so: Els, der ursprünglich Chemie studiert hat, bevor er sich der Musik zuwandte, züchtet als pensionierter Musikprofessor Bakterien, um in ihnen seine Kompositionen zu speichern. "Er hatte eine DNA-Kette nehmen, fünftausend Basenpaare lang, fertig im Internet bestellt, und sie dem Plasmid einer Bakterie einimpfen wollen." Materialien dafür bezieht Els von Onlineshops: "Biologie im Doit-yourself-Verfahren: der jüngste Trend der Heimindustrie. Ein Computer, eine Kreditkarte und ein bisschen Geduld, und schon konnte man ein Lebewesen nach eigenen Wünschen basteln."

Und schon hat die Homeland Security davon Wind bekommen, und Els steht unter Terrorismusverdacht. Dass ein osmanisches Manuskript an seiner Esszimmerwand hängt, verschärft seine Lage als Staatsfeind nur. Els ergreift die Flucht - und eben diese Flucht bildet den roten Faden dieses Romans, bietet auch den Anlass, an das eigene Leben zurückzudenken, an die Musik, die ihm wichtiger als alles war. Schließlich fährt Els quer durch die USA, um vor seiner Verhaftung noch Abschied zu nehmen von jenen, die ihm lieb gewesen waren und es immer noch sind, die er aber der Musik wegen verlassen hat: seine Ex-Frau, seine Tochter.

Subversive Kunst

Wenn Els auf dieser Fahrt, verfolgt von den US-Sicherheitskräften, die fünfte Symphonie von Dimitri Schostakowitsch hört und darüber nachdenkt, wie dieser Komponist versuchte, in der stalinistischen Diktatur zu überleben, so wird auch dabei der Zusammenhang von Politik und Musik thematisiert: die Rolle der Kunst und ihre Möglichkeiten, etwas zu sagen, was zwar alle hören können, was den Komponisten aber trotzdem nicht den Kopf kostet; über die Bedeutung, die Diktatoren der Musik zuschreiben, nämlich gefährlich und subversiv sein zu können. Und über allerlei Interpretationen, getragen jeweils vom ideologischen Hintergrund. Denn auch diese Episode erzählt, wie sehr die Rezeption von Kunst immer auch von der Situation des Hörenden abhängt.

"Ich wollte mir weismachen, dass Musik der Ausweg aus aller Politik ist. In Wirklichkeit ist sie nur ein anderer Zugang dazu", hat Els erkannt. Powers Roman kann politisch gelesen werden, wenn man möchte auch amerikakritisch, denn die USA, die er Els durchqueren lässt, zeigen sich als traumatisierte Nation, die von Sicherheit träumt, die "wacklige Demokratie" wird durch eine definierte Bedrohung zusammengehalten. "Orfeo" lässt sich aber auch als Geschichte eines Menschen lesen, dessen Tod nahe ist und der sich deshalb nun mit seinem Leben und all den Brüchen auseinandersetzt - und mit der Frage, welche Melodie bleibt, wenn man gegangen ist. Und welches Stück man dann zu hören bekommt.

Orfeo

Roman von Richard Powers

Aus dem Amerikanischen von Manfred Allié

S. Fischer 2014, 492 Seiten, geb., € 23,70

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