Deutschland, undeutsch

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Am Montag, dem 19. April, fand die Eröffnungssitzung des Deutschen Bundestages im neu adaptierten Berliner Reichstagsgebäude statt. Ein symbolischer Akt auf dem Weg von der Bonner zur Berliner Republik.

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Am Montag, dem 19. April, fand die Eröffnungssitzung des Deutschen Bundestages im neu adaptierten Berliner Reichstagsgebäude statt. Ein symbolischer Akt auf dem Weg von der Bonner zur Berliner Republik.

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Mühsam stapft das Fernsehteam über den schlammigen Boden, von Zeit zu Zeit innehaltend und das Motiv prüfend. Ist die Pfütze groß genug, um von ihr das Bild aufzuziehen auf das Bauwerk hundert Meter dahinter? Spiegelt sich die moderne Kuppel erkennbar darin, um den im trüben Wasser verkehrt abgebildeten Reichstag filmisch seinem Original gegenüberstellen zu können? Erdhügel umgeben Deutschlands Parlament, Maschendrahtzäune von Baustellen und Rohbauten - ein Sinnbild des neuen Berlin in diesen Tagen.

Sichtbar ist seit der Reichstagseröffnung keine neue Zeit angebrochen. Und doch wird sie seit Jahren beschworen. Irgendwann ist das Wort aufgekommen von der "Berliner Republik", die die "Bonner Republik" ablösen werde. Deutschland teilt seine demokratischen Epochen danach ein, wo die parlamentarischen Fäden zusammenlaufen: Nach dem ersten Weltkrieg war es Weimar, dann war es eben Bonn, jetzt ist es Berlin - "Berlin ist zwar formal, aber noch lange nicht tatsächlich Hauptstadt", sagen viele Berliner.

Schnupperphase Noch ist es die Phase gegenseitigen Beschnupperns. Am Gerüst eines ehemaligen DDR-Ministeriums war schon vor Monaten ein riesiges Transparent aufgehängt worden, auf dem die Worte zu lesen waren: "Das Auswärtige Amt freut sich auf Berlin". Vor kurzem wurde die Aufschrift an der eingerüsteten Front ersetzt: "Berlin freut sich auf das Auswärtige Amt", heißt es jetzt. "Beides gelogen", sagt ein Kölner knapp, der seit mehreren Jahren in der deutschen Hauptstadt wohnt.

Es sind zwei Philosophien, die anfangs zaghaft, aber mit der Zeit immer öfter und heftiger miteinander in Berührung gekommen sind: Jene eines mittelgroßen rheinländischen Dorfs, das sich jahrzehntelang damit ausgefüllt sah, Politik für den Staat und die Welt zu machen, verkörpert durch ein gut geschmiertes Vehikel aus Politikern, Zuträgern, Verbänden und Journalisten - ein Biotop einander persönlich bekannter und seit Jahrzehnten eingespielter Menschen in Funktionen. Die andere Philosophie ist die eines zufällig Großstadt gewordenen polyzentrischen urbanen Konglomerats, das sein eigenes Leben führt, mehr auf sich konzentriert als andere Städte - infolge langen Eingeschlossenseins durch die Mauer und nach deren Fall vor zehn Jahren noch immer vollauf damit beschäftigt, aus zwei Städten, zwei Kulturen, zwei Selbstverständnissen eine weltstädtische Harmonie werden zu lassen.

Die Bonner haben ein wenig Angst vor der großen Stadt. Ein Journalistenkollege, zu Besuch in Berlin, kam kürzlich ins Sinnieren, angesichts eines Männerpaares, dessen eine Hälfte mit einem Rock bekleidet war: "Haben Sie das gesehen", fragte er erschüttert angesichts dieses nicht untypischen Ausschnitts des Berliner Straßenbilds. "Na, die werden sich noch wundern, wenn sie kommen, die Bonner." Laßt sie nur kommen, denken unterdessen die Berliner. Angst kennen sie nicht, keinen Neid, die Stadt mit den Neuen teilen zu müssen, aber auch wenig Interesse an den Neuankömmlingen - der Berliner ist gleichmütig und ruht in sich.

Und so ziehen sich die unsicheren Bonner zurück, vorzugsweise in die "Ständige Vertretung" am Schiffbauerdamm, unweit des von Brecht gegründeten Berliner Ensembles. Zwei findige Rheinländer haben vor ein paar Jahren die "StäV" gegründet und bieten den Entwurzelten vertraute Nahrung, wie es vergleichsweise die PDS auf geistiger Ebene für die heimatlos gewordenen Ex-DDRler versucht. Die Bezeichnung "Ständige Vertretung" für das Szene-Lokal knüpft an die westdeutsche Institution selben Namens in Ostberlin zu DDR-Zeiten an: da die Bundesrepublik ihren deutschen Nachbarn nicht als Staat anerkannte, konnte sie ihre diplomatische Vertretung nicht Botschaft nennen.

Kölsch & Kohl Abends trifft man also die Bundesbeamten dann zuhauf in der "StäV" bei mehreren Gläsern Kölsch unter dem Bild von Helmut Kohl, wo sie wie auf einer Insel aus Heimaterde im fremden Häusermeer wieder an die Vergangenheit anknüpfen können.

Erst kamen die Bonner langsam, viele versuchten den Umzug hinauszuzögern, viele wollten sich in die Pension hinüberretten, andere nutzten die Jobbörse des Bundes, um in einer Bundesorganisation in Bonn weiterarbeiten zu können, die im Austausch mit einem Ministerium in die alte deutsche Hauptstadt übersiedelt. In der letzten Zeit setzt die Umzugsbewegung stärker ein. "Jetzt geht es wirklich los", sagte dieser Tage ein Korrespondent in Bonn. "Fast täglich gehen ein, zwei Kollegen weg" - und siedeln sich in Berlin an, kaum merkbar in der 3,5 Millionen-Einwohnerstadt. Lediglich das Studium der Wohnungsanzeigen in den Zeitungen bestätigt es: Viele Wohnungen werden nur mehr einmal inseriert und scheinen nicht mehr öfter auf, so wie früher. Der Markt zieht an.

Firmen und Institutionen übersiedeln. Am Tag der Reichstagseröffnung hat auch der Zentralrat der Juden in Deutschland seinen Sitz in Berlin bezogen. Die Stadt wird wieder Heimat der Kultur und der geistigen Auseinandersetzung, wie schon vor dem Krieg. Die Volksbühne - einst linientreues Ostberliner Theater, heute spektakulärer Ort ausufernder Regieideen - führt gerade Christoph Schlingensiefs Stück "Die Berliner Republik" auf.

Seit 19. April ist Berlin nicht nur Hauptstadt, sondern auch Parlamentssitz. Am 23. Mai wird hier der nächste Bundespräsident gewählt. Der derzeitige, Roman Herzog, wohnt schon länger hier. Vom Schloß Bellevue an der Spree weht die schwarz-rot-goldene Fahne. Er halte nichts vom Wort der "Berliner Republik", sagt Herzog. Er sehe nicht, warum sie anders als die "Bonner" sein sollte. Und auch bei der Eröffnung des Reichstags betonten die Redner auffällig oft die Kontinuität. Deutschland will aufgrund seiner Vergangenheit niemanden beunruhigen. Bundeskanzler Gerhard Schröder sprach davon, daß sich in der Politik nichts ändern werde.

Die ehemaligen Oststaaten erwarten sich hingegen positive Veränderungen: eine stärkere Hinwendung Deutschlands nach Osten. Was durchaus möglich wäre, nannten die Berliner doch schon bisher ihre Stadt zuweilen "das Dorf an der polnischen Grenze". Eine Stunde Zugfahrt, und man ist an der Oder. Wenn im Winter die sibirischen Winde durch die Straßen pfeifen, weiß man, wo man lebt.

Joschkas 1.000 Büros Jetzt, in den spärlichen Frühlingstagen, die bald in den heißen Sommer der klimatisch kontinental geprägten deutschen Hauptstadt übergehen werden, verstärkt sich die Bautätigkeit in Berlin. Vor einer Woche war Joschka Fischers künftige berufliche Herberge noch eine Baustelle. Türstöcke wurden eingesetzt, über den acht Innenhöfen wehten Staubfahnen, Betonmischer lärmten durch die Bauten. Jetzt, wenige Tage später, sollen die 1.000 Büros des Außenministeriums bezugsfertig sein. Die Zeit drängt, im Sommer will die Regierung umziehen, ab Herbst hat Bonn eine abgeschlossene Geschichte als Ort deutscher Politik. Das Innenministerium wird schon seit mehreren Wochen von Polizisten bewacht, die darin Tätigen sickern wie in vielen Bundesstellen langsam und von der großen Stadt unbemerkt ein. Das "BN" im Kennzeichen sieht man so gut wie nie.

Schnurgerade über den Spreebogen unter zweimaliger Querung des Flusses legen sich die Rohbauten des Bundeskanzleramts. Die schlangenförmig in der Nähe angesiedelten Beamtenwohnungsgebäude werden nur sehr zögernd von den Adressaten angenommen. Trotz deutscher Gründlichkeit haben sich die Arbeiten im Regierungsviertel schon um Monate verzögert, auch wenn fieberhaft gewerkt wird. Berlin will nicht mehr länger Großbaustelle sein, das Buddeln und Hämmern konzentriert sich aufs ehemalige Ödland beidseits der Mauer im Stadtzentrum: eine Nord-Süd-Bahnstrecke samt parallelem Autotunnel, die Regierungsbauten, alles wird noch lange dauern und der Erdwall-Landschaft ein völlig neues Aussehen geben. Bis es soweit ist, residiert Bundeskanzler Schröder im ehemaligen DDR-Staatsratsgebäude, in den alten Amtsräumen Honeckers mit Blick auf den Palast der Republik. Nur zwei Bauten behaupteten sich all die Jahre in der zentralen Wildnis und nachfolgenden Hauptbaustelle Berlins: die Schweizer Botschaft, die nun wie ein exklusiver Fremdkörper an erster Adresse im Nervengewirr von Deutschlands politischer Macht liegt, und der Reichstag.

"Ort der Hoffnung" Jahrzehntelang stand der düstere Vierkanter im Schatten der Mauer, schon vorher war er funktionslos gewesen, nachdem er 1933 ausgebrannt war und die Nazis das Parlament ausgeschaltet hatten. Für Wolfgang Thierse (SPD) war das 1894 errichtete Gebäude in der Zeit des Kommunismus stets "Ort der Hoffnung" gewesen. Nun eröffnete er den Reichstag in der Funktion des Präsidenten des Bundestags und hob stolz den überdimensionalen Schlüssel über seinen Kopf. So sehr das neue alte Parlamentsgebäude noch in der Baustellenwüste steht, so herausgeputzt zeigt es sich innen: kein Protzbau, sondern hell und übersichtlich. Das schafft vor allem die vom britischen Architekten Norman Foster entworfene Kuppel über dem Plenarsaal, durch deren verspiegelten Glastrichter Tageslicht nach unten geleitet wird. Auch während der Sitzungen werden die Kuppel und das daneben liegende Dachrestaurant öffentlich zugänglich sein. Dieses gilt schon jetzt als Geheimtip für Feten jeder Art, mit Blick aufs Brandenburger Tor, den Fernsehturm und den Tiergarten. Deutschland gibt sich undeutsch: Offen und unkompliziert, sozusagen berlinerisch.

Die Berliner selbst haben sich das um 4,2 Milliarden Schilling komplett umgebaute Gebäude bereits angeeignet: Abertausende standen an den Tagen der offenen Tür in der vorigen Woche Schlange, um die neue Heimstätte ihrer Abgeordneten zu besichtigen. Berlin bleibt Berlin - neugierig und mit reger Anteilnahme an der eigenen Stadt. Das war schon so bei der Eröffnung des jüdischen Museums Anfang des Jahres, als die Berliner ebenfalls stundenlanges Anstellen nicht scheuten, um so schnell wie möglich ein neues Stück ihrer Heimatstadt kennenzulernen.

Wenngleich auch sonst das Interesse mehr dem eigenen Kiez (Grätzel würde der Wiener sagen) gilt. Da kann auch feurig gestritten werden, wenn es dort um neue Verkehrsregelungen, Bauwerke oder Buslinien geht. Der Anstrich der S-Bahn scheint denn auch die Berliner mehr zu erregen als andere, der Hauptstadt des größten europäischen Landes angemessenere Probleme. So meinte denn auch einer über den neuen Reichstag: "Schade, daß man jetzt davor nicht mehr Fußball spielen kann".

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