Die Angst vor dem Ausfüllen

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Geschätzte 300.000 Menschen können in Österreich trotz Schulbesuchs nicht lesen und schreiben. Eine Wanderausstellung stellt Betroffene ins Zentrum.

Der Weltalphabetisierungstag am 8. September folgte bisher in Österreich klaren Spielregeln. Die Alphabetisierungs- und Basisbildungszentren informierten Presse und Öffentlichkeit davon, dass mindestens 300.000 Österreicherinnen und Österreicher nicht lesen und schreiben können und stellten ihre Angebote vor. „Das kann es doch nicht geben, wir haben doch die Schulpflicht.“ „Nein, das gibt es nicht, dass jemand neun Jahre die Schule besucht und nicht ausreichend lesen und schreiben gelernt hat.“ „Das müssen Ausländer oder sozial ganz Schwache sein“, so der Stammtischgeist, der wirklich noch „Ausländer“ anstelle von „Menschen mit Migrationshintergrund“ sagt und auch meint.

Aber nicht nur Stammtischrunden, auch Experten wie Ex-Unterrichtsministerin Elisabeth Gehrer zweifelten diese „unbewiesenen“ Zahlen an. Dieses Jahr ist es anders. Eine OECD-Studie, die die Basiskompetenzen von 5000 Österreichern testet, wird im heurigen Herbst vorbereitet und die erste österreichweite Wanderausstellung zum Thema Basisbildung startete am 8. September in Salzburg.

Der erste Schritt

Ein 32-jähriger Hilfsarbeiter aus Salzburg hat exakt am Weltalphabetisierungstag 2008 ein Interview mit Brigitte Bauer vom „abc – Basisbildungszentrum Salzburg“ gehört: „Das hat mir Mut gemacht, ich habe gehört, dass es in Salzburg eine Stelle gibt, bei der ich mich melden kann. Ich konnte damals nur meinen Namen schreiben, einige Buchstaben konnte ich benennen. Mehr konnte ich nicht. Als ich hörte, dass es wirklich sehr vielen Menschen so wie mir geht, habe ich gewusst, dass ich mich zu einem Kurs anmelde.“ Auf der Berechnungsbasis, dass 15 von 100 Menschen nicht lesen und schreiben können, sind im Bundesland Salzburg 49.000 Menschen von Ausgrenzung, beruflich wie privat, betroffen.

„Ich hatte eine gute Stelle als Verkäuferin, machte enorme Umsätze, die Kunden mögen mich. Als man mir die Leitung der Filiale anbot, habe ich mit fadenscheinigen Gründen diese Beförderung abgelehnt. Um nichts in der Welt hätte ich damals mein Geheimnis gelüftet und gesagt: Ich kann nicht ausreichend lesen und schreiben“, erzählt eine 53-jährige Kursteilnehmerin von einstigen Ausflüchten und der großen Angst davor, erwischt zu werden. Heute hat sie nach Einzelstunden und Gruppenunterricht ihre Basisbildung nachgeholt, der Hauptschulabschluss ist ihr nächstes Ziel. „Mein erster großer Erfolg waren die Ansichtskarten, die ich an Freunde geschrieben habe. Meine Kinder haben mich unterstützt, dass ich keine Fehler mache. Daran hätte ich vor fünf Jahren nicht einmal zu denken gewagt.“ Auch ein über 60-jähriger Selbstständiger lernt im Einzelunterricht: „Ich habe den Führerschein, die Prüfung habe ich bestanden, weil ich alles auswendig gelernt habe. Die Korrespondenz erledigt meine Frau, meinen Namen kann ich schreiben und um eine Ausrede war ich noch nie verlegen. Doch jetzt kann auch ich Bestellungen notieren, bin nicht mehr so stark auf meine Umgebung angewiesen.“ Lebensschicksale, die hinter den anonymen Zahlen stehen und die sich mit jedem erlernten Buchstaben verändern, die sich von dem Gefühl „erwischt“ hin zum Triumph „geschafft“ entwickeln.

Einfache, schriftliche Arbeitsanweisungen, Beipacktexte von Medikamenten, Straßenkarten, Formulare bei Ambulanzen sowie einfache Eingabemasken am PC sind für Menschen mit Basisbildungsbedarf Hürden, die sich noch dazu in ohnehin stressigen Momenten – eigene Krankheiten, Begleitung von kranken Kindern – im Alltag aufbauen. Wer weiß davon besser zu erzählen, als die Betroffenen?

So nahm das Salzburger Netzwerk Basisbildung – in ihm sind Einrichtungen der Salzburger Erwachsenenbildung, der Kindergartenpädagogik, der Pädagogischen Hochschule und der Bibliotheken vertreten – die Interviews der Kursteilnehmer des „abc-Basisbildungszentrums Salzburg“ zur Grundlage der ersten österreichweiten Wanderausstellung mit Fotos und Hörstationen zum Thema: „Erwischt war gestern – Basisbildung: die beste Entscheidung.“

„Wir machen eine Ausstellung mit den Betroffenen über das Thema“, hält die Organisatorin Brigitte Bauer fest. „Die Kursteilnehmer wünschten sich absolute Diskretion, sie wollen hör-, aber nicht sichtbar sein. In einfachen Hauptsätzen sollten die wesentlichen Informationen auf den Tafeln stehen: Dafür waren sie bereit, über ihre größten Hürden, ihre besten Ausreden und ihre größten Erfolge zu berichten.“ Da bestand dann Einigkeit, die häufigste Ausrede, um dem Schreiben bzw. Lesen zu entkommen ist „Leider, Brille vergessen. Ich fülle das später aus.“ Brigitte Bauer legt auf eine klare Nomenklatur großen Wert, so spricht sie von „Teilnehmern an Basisbildungskursen“ und nicht von „Analphabeten“: „Alles ist eine Frage der Bezeichnung, schließlich klingt da immer Be- bzw. Entwertung mit. „Menschen mit Basisbildungsbedarf“ entwertet nicht. Zu den wesentlichsten Motiven der Betroffenen, zu den Kursen zu kommen, zählt der Wunsch, aus ihrer sozialen Benachteiligung herauszukommen. Sie wagen einen zweiten Einstieg ins Lernen, schreiben ihre Lernbiografie weiter oder schreiben sie. Sie lernen wieder zu lernen, ihr Tempo zu finden, konkret nachzufragen.“

Auf einer Hörstation ist der entsetzte Ausruf zu hören: „Die haben das c von meinem Laptop gestohlen.“ Der junge Mann hat sich zum Weiterlernen einen Laptop gekauft und staunte vor den Tasten. Maßgeschneiderte Basisbildungsangebote gibt es beim abc-Basisbildungszentrum in den Bereichen Alphabetisierung, Lesen und Schreiben, Rechtscheiben am PC, Alltagsrechnen mit PC und Computerarbeit auf drei Niveaus.

140 Kilometer für 26 Buchstaben

Durchschnittlich erreichen die Lernenden ihr individuelles Kursziel in drei Semestern: sie erarbeiten sich in dieser Zeit jene Kenntnisse, die sie brauchen, um in Alltag und Beruf selbstständig zurechtzukommen. Die Kurse besuchen sie zwei Stunden pro Woche. „Ich bin jede Woche 140 Kilometer für 26 Buchstaben gefahren. Aber heute könnte ich die Welt umarmen“, klingt aus einer Hörstation der Wanderausstellung die Beschreibung eines langen Weges hin zum glücklichen: „Ich habe es geschafft.“ Mit steigenden Kompetenzen und wachsender Sicherheit öffnen sich die Betroffenen, erzählen von ihrer Schullaufbahn, von Versagensängsten, häufigen Übersiedlungen und ebenso häufigem Lehrerwechsel, vom Übersehenwerden, von Angst und Scham. Die 52-jährige Gisi K. hat einen großen Wunsch: „Dass ich noch mehr schreiben lerne und ich auch schreiben kann, wenn mir jemand zuschaut.“

Im Rahmen der OECD-Studie PIAAC (Programm for the International Assessment of Adult Competencies), einer Art PISA-Studie für Erwachsene zwischen 16–64 Jahren, soll die Zahl der Menschen der Analphabeten in Österreich ermittelt werden. „Menschen mit Basisbildungsbedarf“, sagen die Praktiker mit großer Sprachsensibilität. „Basisbildung ist kein Geschenk, schon gar kein Almosen: Es ist ein Menschenrecht“, betont Brigitte Bauer.

Ausstellung

Die Salzburger Wanderausstellung „Erwischt war gestern – Basisbildung: die beste Entscheidung“ gibt mit Fotos und Hörstationen Einblicke in die Welt von „Analphabeten“. Sie startet zurzeit in Salzburg ihre Tour. Sie kann gebucht werden unter:

office@abc.salzburg.at

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