Die Ausbürgerung des Doktor Faust

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Der Faust-Mythos - vielfach ideologisch mißbraucht - lebt in veränderter Form weiter. Letzter Teil der dreiteiligen Furche-Serie über Goethes berühmte Figur.

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Der Faust-Mythos - vielfach ideologisch mißbraucht - lebt in veränderter Form weiter. Letzter Teil der dreiteiligen Furche-Serie über Goethes berühmte Figur.

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Im Sommer 1995 gestaltete die Firma Coca-Cola das Etikett für eines ihrer Produkte neu. In einer Ecke schien ein kleines Zeichen auf, das an ein Pentagramm, einen fünfzackigen Stern, erinnerte. Ein Pentagramm zeichnet der Doktor Faust in Goethes Drama auf die Türschwelle seines Studierzimmers, damit keine Dämonen eindringen können. Die fünf Strahlen des mystischen Zeichens symbolisieren das Weltall, die fünf Sinne und Extremitäten des Menschen, gleichzeitig auch die fünf Buchstaben des Namens Jesus; ein Teufel kann dieses Symbol nicht überschreiten.

Das Ornament auf Coca-Cola-Flaschen sah einigen Menschen allzu sehr nach einem Pentagramm aus. Der "Christliche Verein junger Menschen" in Bayern begann, Hölle und Schwefel zu schmecken. Es gälte, den Konzern zu boykottieren, befanden die jungen Christen. Der Verein ließ den Evangelischen Pressedienst wissen: "Der Punkt rechts oben auf den Behältern deutet darauf hin, daß Coca-Cola im Wettbewerb mit seinem Konkurrenten Pepsi die Hilfe von Dämonen beschwört."

Lachhaft? Der Weltkonzern fand das überhaupt nicht komisch. In einer Pressemitteilung vom 25. 7. 1995 reagierte Coca-Cola umgehend: "Etwaige Vergleiche in Wort oder Bild mit sogenannten okkulten Mächten sind weder gewollt noch beabsichtigt. Um weiteren Mißinterpretationen vorzubeugen, haben wir diese Stimmen aus der Bevölkerung allerdings sehr ernst genommen und uns entschlossen, das in ersten Verbrauchertests zunächst sehr positiv aufgenommene Coca Cola light Design zu verändern." Der Austausch wurde prompt vollzogen; heute gibt es nur mehr pentagrammfreie Flaschen zum Verkauf. Man hätte - mit ein bißchen Humor und Sachkenntnis - auch anders reagieren können: Ein Pentagramm auf einer Flasche kann ja, nähme man es dämonologisch genau, nur den Teufel vom Trinken abhalten. Der milliardenschwere Wirtschaftsgigant aber ging in die Knie.

Faust im Alltag Faust und Mephisto, der ewig Suchende und der Verführer, sind im Alltag noch immer gegenwärtig. Seit 20 Jahren gibt es die Geschichte als Comic. Jüngstes Elaborat: "Who the fuck is Faust?" Bei dieser im deutschen Eichborn-Verlag erschienenen Version ist Mephisto ein Punk, Faust ein mittelloser Theologiestudent, die Walpurgisnacht ein Drogentrip. Ob solche Bildergeschichten den Goetheschen "Faust" in Zukunft gänzlich ersetzen?

Eine große Anziehungskraft hat Faust heute auf Naturwissenschaftler. In den Vereinigten Staaten gibt es zahlreiche Labors, die sich mit Gentechnologie beschäftigen. Sechs davon lassen im Internet ihre Seiten unter "Dr Faust's laboratory" kursieren. Der Name drückt wissenschaftliche Allmacht aus. Neues Leben zu erzeugen, darum ging es bereits in Goethes "Faust". Klonen und Entschlüsseln von DNS-Codes wird in eine Reihe gestellt mit den Versuchen in Goethes "Faust", einen Homunculus, einen künstlichen Menschen, zu schaffen.

Faust im amerikanischen Alltag: Für die Deutschen war der Name so sehr ein Inbegriff des deutschen Wesens, daß Einwanderer in die Vereinigten Staaten um die letzte Jahrhundertwende auf die Idee kamen, ihre neu gegründeten Städte nach ihm zu benennen: In den Bundesstaaten New York, Utah und North Carolina gibt es noch heute drei Städtchen, auf deren Ortsschild "Faust" zu lesen steht. Freilich handelt es sich dabei um relativ unbedeutende Orte, die sämtlich weniger Einwohner besitzen, als die namensgebende Dichtung Verse hat (12.111).

Faust und kein Ende: Es gibt Mephisto-Schuhe und Faust-Wein, Mephisto-Champagner und Faust-Kutteln. Dennoch: Die Zeiten, in denen fast jeder Schüler einer höheren Schule sich mit dieser doch recht schwerverdaulichen geistigen Nahrung der Goetheschen Dichtung ins Benehmen setzen mußte, sind vorbei. Dafür hat die 68er Revolution mit ihren Umwälzungen der Lehrpläne gesorgt. Eine Umfrage in Göttingen im Jahr 1995 unter Nicht-Philologen, also normalen Leuten, die "Faust" nicht zum Broterwerb brauchen, ergab: Der "Gipfel der deutschen Literatur" wird heute als Klugscheißerei sogenannter Belesener abgetan. Mit Mephisto verbindet der Durchschnittsbürger einen Markenschuh oder einen Schachcomputer; bei Knittelversen (dem Versfuß weiter Teile des "Faust") denkt er an eine ekelerregende Fußkrankheit. Freiwillig greift niemand mehr zu Goethes "Faust". Die Älteren begründen das so: "Weil ich damit schon genügend in der Schule gequält worden bin". Die Jüngeren wissen von "Faust" nur mehr aus Comics. Und jene, die das Werk noch kennen, fanden, daß erkennen wollen, was die Welt im Innersten zusammenhält, bei Gott nicht das Wichtigste in ihrem Leben sei.

Deutscher Krieger...

"Faust" ist also kein typisch deutscher Gegenstand mehr. Schauspieler mögen noch nach der Rolle gieren. Doch wirklich brisant ist die Figur heute nur mehr außerhalb Europas. Regisseure von Südafrika bis Indien haben Faust als Modell für europäisches Dominanzstreben in der Welt entdeckt. Ihnen erklärt dieser Mythos die Triebfedern des europäischen Kolonialismus, das Streben, Ausgreifen, Herrschenwollen.

"Der deutsche Krieger braucht die deutsche Literatur: sie wird ihn im Felde erstarken lassen", hieß es im Ersten Weltkrieg. Daher bekam jeder deutsche Soldat kleine Literaturbändchen mit kriegslüsternen Vorworten für seinen Feldtornister. Der erste Band war Goethes "Faust". Im Zweiten Weltkrieg wiederholte sich diese Funktionalisierung der Goetheschen "Faust"-Dichtung. Faustisches Wesen, also streben, ringen, nie aufgeben, kämpfen, bohrend fragen, wurde schon im 19. Jahrhundert zu einem deutschen Nationalbegriff.

Liest man das Drama aber unbefangen, ist diese Überfrachtung der Figur mit solchen Eigenschaften ziemlich unverständlich. Faust ist ein Mann, der es nicht einmal schafft, sich ein Mädchen anzulachen, da braucht er schon des Teufels Hilfe. Er hält sich für hochintelligent und kann nicht einmal ein Pentagramm, einen fünfeckigen Stern zeichnen: so jemand will ein Zauberer sein? Bei seiner Zeichnung am Boden bleibt ein Winkel offen, so daß der Teufel durchschlüpfen kann. Und am Schluß des zweiten Teils wird er nur deshalb nicht des Teufels Beute, weil himmlische Mächte ihn retten. Mit einem Wort: eine Nullnummer, um es modisch zu sagen. Goethe war weit davon entfernt, einen Übermenschen darstellen zu wollen. Er gestaltete diese Figur eher mit ironischem Witz, und erst die Nietzsche-Brille machte aus Faust den Giganten.

Die Nationalsozialisten taten sich erst einmal schwer mit Goethe. Adolf Hitler hätte den Weimaraner am liebsten aus dem Kanon der deutschen Literatur verbannt. Goethe war Freimaurer, Weltbürger, ein erklärter Gegner nationalistischen Gehabes, für die nationalsozialistische Ideologie eigentlich unbrauchbar. Erst Baldur von Schirach, einer der "Pressesprecher" Hitlers, holte ihn "heim ins Reich". Halbbildung triumphierte: Man riß eine Episode aus dem zweiten Teil des "Faust" aus dem Zusammenhang, jene Szene, in der Faust seine Utopie von Landgewinnung gewaltsam durchzusetzen versucht. Die Stelle diente nun plötzlich als Rechtfertigung für den deutschen Angriffskrieg und für die Formel "Volk ohne Raum". Die deutschen Germanistik-Professoren liehen dieser Transaktion ihre willige Wissenschaftshand. Zunächst schoben sie Goethe im Sinne des Führers beiseite und hoben Schiller aufs Podest. Doch dann folgten sie der neuen Maxime, ausgegeben von Goebbels: Goethe sei selbst ein Antisemit gewesen und ein großer Freund der Todesstrafe. Bis heute konnte sich die deutsche Germanistik noch nicht vollständig reinwaschen.

Ideologischer Karren Auch die Parteiführung der DDR spannte "Faust" vor ihren ideologischen Karren. Der Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht predigte, daß "Faust" ein Lieblingsbuch der Kommunisten sei, denn dort sei das Ziel des guten, nämlich kommunistischen Nachkriegsdeutschland vorgezeichnet, in Goethes Vers "Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn". Die DDR, so Ulbricht, sei die Fortführung der Literatur mit den Mitteln der Politik. Ulbricht wörtlich: "Wenn ihr wissen wollt, wie der Weg vorwärts geht, dann lest Goethes ,Faust' und Marx' Kommunistisches Manifest! Dann wißt ihr, wie es weiter geht." Der deutsche Kosmonaut Sigmund Jen nahm 1979 auf einen Weltraumflug das Kommunistische Manifest und Goethes "Faust" im Gepäck mit. Nach seiner Rückkehr zur Erde gab er seinen "Weltraumfaust" im Weimarer Goethe-Museum als Weihegabe ab.

Wie aber konnte man den berühmt-berüchtigten Vers "Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn" politisch derartig instrumentalisieren? Schaut man sich den Text genau an, dann ist es unmöglich, daraus jene Schlüsse zu ziehen, die in der DDR gezogen wurden. Faust, ein alter, blinder Mann, vertreibt und ermordet Menschen, die seinem Landgewinnungsprojekt im Weg stehen. Es kommt nicht dazu, daß sein Staat realisiert wird, denn er äußert jenen Satz, der ihn laut Pakt dem Teufel anheimfallen läßt. Im ersten Teil des Dramas hatte er versprochen: "Werd' ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! Du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, dann will ich gern zu Grunde gehn! Dann mag die Totenglocke schallen, dann bist du deines Dienstes frei, die Uhr mag stehn, der Zeiger fallen, es sei die Zeit für mich vorbei!" Er sagt diesen Satz am Schluß von "Faust II", als er sich am Ziel wähnt, ein paradiesisches Land geschaffen zu haben: "Im Vorgefühl von solchem hohen Glück genieß' ich jetzt den höchsten Augenblick."

Tot sinkt er zurück, ein Gescheiterter. Aber so genau nahm man es in der DDR nicht, dafür wurde jedem Schüler die Freude an dem Werk vergraust, wie ehemalige DDR-Bürger noch heute mit Schaudern berichten.

Zu viel Ungeisteskraft ging in die deutsche politische Vereinnahmung des "Faust", so daß bis heute wenig Zeit dafür übrig blieb, die europäische Dimension des Mythos zu studieren. Englische, französische, italienische, russische Adaptationen des Stoffes wurden ignoriert: mangelnde Sprachkenntnisse und ein beschränkter Horizont ...

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