Die Autorin füttert die Leser mit Klischees

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"Der Bibliothekar" von Judith Kuckart: Ein Roman über Liebe im Rotlichtmilieu, der nichts der Phantasie überläßt.

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"Der Bibliothekar" von Judith Kuckart: Ein Roman über Liebe im Rotlichtmilieu, der nichts der Phantasie überläßt.

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Wenn der Bibliothekar sein letztes Buch zuklappt und zu lesen aufhört, kann für ihn die Welt anfangen. Er kann auch in eine Peep Show gehen und sich auf die Suche nach der Liebe begeben.

Und Hans-Ulrich Kolbe wird fündig, zumindest glaubt er es, sobald er vom Tanz der Jelena begeistert ist und die Woche nur mehr danach einteilt, wann sie "Dienst" hat. Das Denken fällt daraufhin regelmäßig bei ihm aus. "lhre und seine Augen fügten sich ineinander. Jelenas Mund lag im Schatten, ihre Augen an dessen Saum. Ein Wunder dachte Hans-Ulrich, und hob die Nase."

Der Roman der Berlinerin Judith Kuckart beginnt tief in den Klischees: Bibliothekare sind trocken, haben sie doch nur mit Gedrucktem und Staub zu tun. Außerhalb der Bücher ist ihr Horizont mikroskopisch - eine Leserin im Minirock, alte Damen, Stammpublikum der Vorträge über Bücher, die es längst nicht mehr gibt. Mit solchen Prämissen könnte auch ein billiger Sexfilm beginnen. Kann man damit ein ergreifendes Buch über die Liebe und deren Unmöglichkeit in schäbigen Hinterzimmern und miefigen Kabinen schreiben? Oder ist die hehre Absicht nur vorgeschoben, das Ganze eine verklausulierte Variante des Voyeurismus? Wenn alles und selbst das Letzte gezeigt wird, bleibt für die Phantasie kein Platz mehr - wie zum Beispiel im Film "Der letzte Tango in Paris". Als Parabel auf die Einsamkeit des Menschen waren das mühsame zwei Stunden.

Ein Buch hat es da leichter, denn Erotik hat auch mit Bildern im Kopf zu tun. "Er haßte jetzt Bücher, vor allem die schlechten, die wie das Leben sein wollten. Je mehr sie sich der Wirklichkeit andienten, um so mehr logen sie. Was hatte er davon, wenn er seinen Vater, dessen Tauchsieder, seine neun Tanten und dessen Schuhspanner auf Seite 47 wiedererkannte? Was konnte er dafür, wenn es bei anderen zu Hause so kalt war, daß sie sich an jedem Wiedererkennen wärmen mußten?" Auf dem Weg zur Begegnung des Bibliothekars mit der Tänzerin Jelena setzt die Autorin viele Bilder im Kopf in Gang und flicht auch die Geschichte der beiden im Nachkriegsdeutschland ein, ohne damit irgend etwas erklären zu wollen.

Am Ende, als die Bilder, die sich der Bibliothekar gemacht hat, als Körper neben ihm im Bett liegen, scheinbar für immer, ist die Zukunft zu Ende, im übertragenen Sinn wie im tatsächlichen Leben. Eine fleischgewordene Beziehungslosigkeit, die fast eine Moral als Morgendämmerung zeitigt - wäre nicht die aufgesetzte Geschichte von Sophie, einer Tochter des Bibliothekars aus seiner früheren Ehe, die sich auf die Suche nach ihm macht, Jahre nach dem Mord an Jelena, und schließlich für einen abgeschmackt rätselhaften Schluß verantwortlich scheint, mit Sätzen, die sich ins Klischee verstrickt haben: "Der Bibliothekar hatte in allen Romanen Unterstreichungen angebracht, die sein intimes Einverständnis mit den Sätzen zum Ausdruck brachten. Früher hatte er mit dem Herzen gelesen. Was er unterstrich, war seins. Den Stift in der Hand sprach er zu einer schlafenden Frau. Einer Frau wie ein Wunder. Sätze von Proust oder Flaubert oder Goethe, die er inbrünstig unterstrich, ließen ihn vergessen", und so weiter, und so fort. Wenn alles gesagt wird, bleibt nichts für die Phantasie. Weniger wäre mehr gewesen, auch in dieser Passage.

Der Bibliothekar Roman von Judith Kuckart Eichborn Verlag, Frankfurt/M. 1998 255 Seiten, geb., öS 291,-

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