Die bedrohte häusliche Eßkultur

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Zum Dossier. Essen und Trinken - ein unerschöpfliches, vielfältiges Thema, auf das die folgenden Seiten nur einige Schlaglichter zu werfen vermögen: etwa auf den drohenden Niedergang der Eßkultur im häuslichen Bereich (Seite 13) und auf das Boomen des Essens außer Haus (Seite 14). Conrad Seidl - er gilt in Kennerkreisen als "Bierpapst" - berichtet, daß der Gerstensaft längst nicht mehr nur ein Durstlöscher ist, sondern zum Kultgetränk wird (Seite 14), also einen Status bekommt, den Wein schon längst hat (Seite 15). Interessant auch die Erkenntnis: Die alpenländische Kost weist alle Merkmale einer Diät auf, die viele heute zum Abnehmen einhalten. Sie entpuppt sich nämlich als Trennkost (Seite 15).

Die Werbung sei ein Spiegel unserer gesellschaftlichen Situation, wird immer wieder behauptet. Was das Essen und Trinken anbelangt, trifft das durchaus zu. Hervorgekehrt wird heiteres Zusammensein von Jugendlichen bei Sport und Freizeit, Fitneß und vor allem: die Schlankheit. Die Botschaft lautet: Genuß ohne Reue ist möglich. Die schlanke Linie ist nicht in Gefahr durch appetitanregende Pizzas, knuspriges Knabberzeug oder süße Köstlichkeiten - alles kalorienarm, versteht sich. Das genußreiche Erlebnis und der Spaß an Essen und Trinken stehen im Vordergrund.

Gekocht wird mit möglichst wenig Aufwand. Rasch muß es gehen. Fertiggerichte sind Trumpf. Neuerdings sind Männer mit und ohne Schürze Hauptakteure in der Werbeküche. Sie ernten Lob, wenn sie brav waren. Das Umfeld, in dem am Bildschirm geschlemmt wird, sind Partys oder ein zärtliches Tete a tete. Immer wieder beteuern Kinder - sie sind ja Hauptadressaten der Werbung -, wie köstlich sie all die leckeren Dinge finden.

Was man aber so gut wie nie vorgesetzt bekommt, ist das Bild von Familien, die um den Tisch versammelt sind. Kein Wunder, es ist eine Konstellation, die im ja auch Alltag zunehmend Seltenheitswert hat. Der heutige Lebensstil bringt es mit sich, daß es immer schwieriger wird, gemeinsam eine Mahlzeit einzunehmen. Arbeits-, Öffnungs- und Schulzeiten geben den Takt des Lebens an wie die Verabredung zum Tennis und der Beginn der Gitarrestunde.

Ab dem Kindergartenalter sind die meisten von uns in ein regelmäßiges außerhäusliches Programm eingespannt. Zu unterschiedlichen Zeitpunkten verläßt man die Wohnung, zu unterschiedlichen Zeitpunkten kehrt man wieder heim. Wer Hunger hat, sucht im Kühlschrank nach Eß- und Trinkbarem - und futtert es mehr oder weniger rasch und mehr oder weniger aufmerksam in sich hinein.

Seitdem sich die Öffnungszeiten im Handel in den Abend verschoben haben, wird es für viele Familien wirklich schwierig, das Nachtmahl gemeinsam einzunehmen. Eine Mutter, die bis 19 Uhr an der Kassa im Supermarkt sitzt und dann eine halbe oder dreiviertel Stunde für den Heimweg braucht, kommt erst dann zu Hause an, wenn es langsam Zeit wird, Volksschulkinder ins Bett zu schicken.

Längst ist das gemeinsame Mittagessen passe. Zur Tagesmitte wird außer Haus gegessen: in der Kantine, am Würstelstand, im Beisl, am Bürotisch "aus dem Papierl", am Stehpult beim Fleischhauer oder in der nahegelegenen Bäckerei. Oft sind die Pausen nur kurz, und die Mahlzeit wird unter Streß eingenommen.

Besonders bedenklich ist diese Art, sich zu ernähren, wenn es sich um Jugendliche handelt. Bei einer Umfrage an Höheren Schulen in Linz stellte man etwa fest, daß nur 20 Prozent der befragten Schüler wochentags ein regelmäßiges Mittagessen zu Hause einnehmen. Für die übrigen gibt es Wurstsemmeln (22 Prozent), Würstelstand (18 Prozent) oder Fast-food-Lokal (17 Prozent).

Selbst das Frühstück ist in vielen Familien keine Gelegenheit, sich zusammenzusetzen, wie dieselbe Untersuchung ergab. Denn mehr als 70 Prozent der Schülerinnen und jeder zweite Schüler nehmen nicht einmal regelmäßig ein Frühstück zu sich. Häufig beschränkt sich diese erste Mahlzeit des Tages auf das Hinunterstürzen eines Getränks.

Daß diese Form der Ernährung schon allein vom gesundheitlichen Standpunkt aus äußerst problematisch ist, versteht sich von selbst. Sie hat aber noch einen anderen, nicht weniger wichtigen Aspekt: Das familiäre Zusammensein dünnt aus. Denn das Essen erfüllt ja nicht nur den Zweck, Nahrung aufzunehmen. Es hat auch eine eminent wichtige soziale Funktion. Durch Essen und Trinken stellt der Mensch nicht nur regelmäßig seine Arbeitsfähigkeit wieder her. Diese Tätigkeiten sind vor allem auch der ideale Rahmen für Begegnungen.

Und diese Form der Begegnung kommt im heutigen Familienleben einfach zu kurz. Eltern und Kinder, die sich kaum oder nicht mehr gemeinsam um den Tisch versammeln, sind allein dadurch schon in ihrem Zusammenhalt gefährdet. Es fehlt ihnen eine wichtige, regelmäßig wiederkehrende Gelegenheit zu einem zwanglosen Kontakt, zum Austausch von Erlebnissen.

Familienmitglieder, die den Großteil ihrer Zeit in unterschiedlichen Lebenswelten verbringen, brauchen unbedingt Zeiten des Zusammenseins, in denen man schlicht und einfach nichts anderes tut, als zu erzählen, was jeder erlebt hat, und zu erfahren, was die anderen bewegt. Und wo ginge das besser als bei gemeinsamen Mahlzeiten?

Daß diese heute in der Hektik des Alltags abhanden kommen, trägt dazu bei, daß die Gesprächskultur in so vielen Familien unterentwickelt ist. Man könnte sich wahrscheinlich so manche aufwendige psychologische Beratung sparen, wenn man mehr gemeinsam um den Tisch säße.

So wichtig es ist, daß heute wieder mehr über die Qualität dessen nachgedacht wird, was wir zu uns nehmen, so sinnvoll es ist, die Vorteile von Biokost herauszustreichen, so bedeutsam wäre es auch, über die gefährdete Eßkultur in den Familien nachzudenken und diesem Aspekt vermehrt Bedeutung zuzumessen.

Und das bedeutet insbesondere: Sich bewußt regelmäßig und nicht nur im Urlaub um den Tisch zu versammeln, einfach kleine Feste in den Alltag einzubauen, und wenigstens an den Wochenenden miteinander zu essen - möglichst ohne Streß und ohne nach der Uhr zu schielen.

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