Die bekehrende Wirklichkeit

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Am 24. Jänner ist Bischof Samuel Ruiz García 86-jährig in Mexiko verstorben. Der Altbischof von Chiapas war in den 90er-Jahren durch seine Vermittlerrolle beim Zapatistenaufstand weltweit bekannt geworden.

Als er 1960 mit nur 35 Jahren zum Bischof der mexikanischen Diözese San Cristóbal de las Casas wurde, dachte Samuel Ruiz García nicht im mindesten daran, welche Auswirkung seine bischöfliche Tätigkeit dereinst haben würde. Er trat sein Amt als strammer Antikommunist und Missionseiferer an, der auf der Seite der Herrschenden und der lokalen politischen Eliten stand. "Die indigene Bevölkerung hat mich verändert“, sagte Ruiz dreieinhalb Jahrzehnte später. Er reiste in die entlegensten Winkel seiner Diözese und lernte die bittere Armut und die soziale Unterdrückung der originären Bevölkerung kennen. Bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus war es besonders in Chiapas üblich, dass ein Indio den Gehsteig verließ und den Kopf senkte, wenn ihm ein Mestize oder gar ein Weißer entgegenkam.

"Tatic“ und "Don Samuel“

Der zweite Faktor, der den jungen Bischof veränderte, war das ab Oktober 1962 tagende 2. Vatikanische Konzil mit seiner Botschaft einer umfassenden pastoralen und ökumenischen Erneuerung. Ruiz nahm daran selbst teil und ließ sich vom neuen Geist, der sich mit Johannes XXIII. im Vatikan ausbreitete, gründlich anstecken. Nach seiner Rückkehr aus Rom begann er, in seiner Diözese Diakone auszubilden, die Messen in den indigenen Sprachen hielten. Alsbald nannten ihn die Indios von Chiapas "Tatic“, was in der Sprache der Tzotziles so viel wie Vater, Väterchen heißt. Die ihm gut gesinnten Angehörigen der mestizischen und weißen Bevölkerung sollten ihn respektvoll als "Don Samuel“ bezeichnen. Viele waren es ja nicht, denn seine Diözese war eine der konservativsten im ganzen Land. "Viehzüchter, Händler und Politiker verhielten sich gegenüber den Indigenen weiter wie Kolonialherren“, diagnostizierte der Bischof später das Establishment.

Am 24. Jänner verstarb der Altbischof in einem Spital in Mexiko-Stadt und wurde noch am selben Tag - auf eigenen Wunsch - nach San Cristóbal, seinen einstigen Bischofssitz gebracht, wo der Leichnam in der sogenannten Friedenskathedrale aufgebahrt wurde.

Am Vorabend war gerade noch rechtzeitig Bischof Raúl Vera nach Mexiko-Stadt gekommen, um seinem Freund die Krankensalbung zu spenden. Er feierte dann auch die Totenmesse in der Hauptstadt, worin er die Arbeit von Samuel Ruíz "im Bundesstaat Chiapas, einer von Ungerechtigkeit und Machtmissbrauch gegenüber den Indigenen und den Armen gebeutelten Region“, lobte: "Er hinterlässt uns die Hoffnung auf eine andere Welt, auf ein gerechtes Mexiko, wo der Friede herrscht.“

Vermittler im Chiapaskonflikt

Neben seiner immer offener geäußerten Kritik an der staatlichen Sozial- und Menschenrechtspolitik und seiner Parteinahme für die Rechte der Indigenen wurde Samuel Ruiz bekannt durch seine Unterstützungs- und Vermittlertätigkeiten für die Opfer der Politik. Als Anfang der 80er-Jahre Zigtausende Menschen vor der guatemaltekischen Militärdiktatur nach Mexiko flohen, standen ihnen der Bischof und seine Mitarbeiter zur Seite. Internationale Bekanntheit erfuhr "Don Samuel“ dann mit dem Ausbruch des zapatistischen Aufstands am 1. Jänner 1994, als er zwischen den Aufständischen und der mexikanischen Regierung verhandelte und tatsächlich einen Waffenstillstand erreichte. Lange Jahre noch sollte er sich mit allen Kräften für eine Friedenslösung im Chiapas-Konflikt einsetzen - eine Aufgabe, die ihm aufgrund der politischen Machtverhältnisse in Mexiko nicht gelingen konnte. Die Vermittlertätigkeit erregte nicht nur das Missfallen des mexikanischen Establishments, sondern auch des Vatikans. So stellte Rom dem aus der Reihe tanzenden Bischof einen Aufpasser zur Seite, nachdem dieser den vatikanischen Wunsch nach einem Rücktritt abgelehnt hatte.

Der Vatikan hatte sich als Koadjutor für Weihbischof Raúl Vera entschieden, einen stramm konservativen Kirchenmann. Doch die Realität vor Ort sollte auch diesen völlig "umdrehen“. Die beiden Bischöfe wurden bald enge Freunde und arbeiteten zusammen im Sinne der Option für die Armen.

Raúl Vera, heute Bischof von Saltillo in der Grenzregion zu den USA, ist der letzte Vertreter einer sozialkritischen Position in der mexikanischen Bischofskonferenz. Die Bischöfe Mexikos vertraten nie mehrheitlich eine Option für die Armen wie etwa in Brasilien. So hatte es der Vatikan relativ leicht, ab den 90er-Jahren diese Position in der Hierarchie zurückzudrängen.

Keine sozialkritischen Bischöfe

Dieser Prozess kann heute als so gut wie abgeschlossen bezeichnet werden. Bei der 15. Vollversammlung der mexikanischen Bischofskonferenz im November 2010 waren auch der konservative Staatspräsident Felipe Calderón und seine Gattin eingeladen. Der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Erzbischof Carlos Aguilar Retes von Tlalnepantla, forderte in seiner Eröffnungsansprache nicht nur Garantien für die Religionsfreiheit im Lande, sondern auch "einen juridischen Rahmen, der der eigenen Sendung entspreche“. Eine Forderung, die eine ziemlich breite Auslegung ermöglicht … In Mexiko gilt seit 1855 eine strikte Trennung von Kirche und Staat; nach der Revolution von 1917 verloren die Kirchen ihren Status als juristische Personen.

Die katholische Kirche Mexikos stellt traditionellerweise nichts infrage, was aus Rom kommt. "México, siempre fiel“(Mexiko ist immer treu), schallte es Johannes Paul II. bei seinen Reisen durchs Aztekenland entgegen.

Die Emeritierung des Bischofs Samuel Ruiz 1999 bedeutete für die vom Vatikan gelenkte Ausschaltung sozialkritischer Kräfte in der mexikanischen Amtskirche einen großen Schritt vorwärts. Die Tatsache, dass "Tatic“ nach seinem Tod allseits gelobt wurde, ändert nichts daran. Präsident Calderón nannte Ruiz einen "großen Mexikaner“, der die Bewunderung aller verdiene. Auch die Medien lobten vollmundig den Bischof. Die Bischofskonferenz verhielt sich da schon etwas zurückhaltender, als sie Ruiz anlässlich seines Todes "einen beliebten, aber polemischen Hirten nannte“.

Wie Oscar Romero in El Salvador wird auch Samuel Ruiz García in den Köpfen und Herzen jener Millionen weiterleben, für die er ein Symbol der Beendigung jenes Teufelskreises von Armut, Unterdrückung und Entwürdigung war und ist, den vor allem die indigene Bevölkerung Mexikos seit Jahrhunderten erleidet.

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