Gottes Widersprüchlichkeit
Ina Praetorius fragt, was wir denn unseren Kindern angesichts Gottes Widersprüchlichkeit – beim Thema Gewalt etwa oder beim Thema Sex, wie man ergänzen könnte – antworten würden.
Man sollte Kindern sagen, was man wirklich glaubt. Also würde ich sagen: Die Bibel ist die Geschichte der Erfahrungen der Menschen mit Gott. Sie ist ein einziger Streit um Gott und manchmal auch mit Gott. Wenn es stimmt, dass sich Gott in Jesus als verletzlicher Mensch mit allem Risiko des Scheiterns auf die Menschheitsgeschichte eingelassen hat, dann ist es nur logisch, dass er sich auch auf die menschliche Verstehensgeschichte eingelassen hat. Und es ist dann auch logisch, dass dieser Versuch nicht viel besser ausgeht. Wir stehen, was Gott betrifft, nicht jenseits der menschlichen Unsicherheit am sicheren Ufer des Wissens, sondern in der Geschichte, im offenen Strom des Glaubens, des Hoffens, des Wagnisses, kurz: des Kampfes um das Verständnis Gottes. Die Bibel ist das Dokument dieses Kampfes, die Theologie ein Teil seiner Fortsetzung.
Vielleicht hätte sich Gott tatsächlich ein wenig deutlicher ausdrücken könne, wie Nietzsche meint. Es hätte uns aber auch viel Freiheit gekostet. Und wohin es führt, wenn im Verständnis von Gottes Offenbarung keine Freiheit mehr ist, das sehen wir zurzeit an vielen Orten, vor allem, wenn es um Religion, Sexualität und Macht geht.
Dass die Bibel kein monolithischer Block, sondern eine ziemlich bunte Sammlung von Perspektiven und Genren ist, das hat mich im Laufe des Lebens immer weniger irritiert, vielmehr zunehmend beruhigt. Denn es sagt: Wer nicht-plural und zentralperspektivisch von Gott redet, redet nicht biblisch vom Gott der Bibel. Das nimmt uns die Entscheidung, an welchen Gott wir glauben, auf welchen Gott wir bauen, nicht ab. Die Bibel stellt uns vielmehr genau diese Frage.
* Der Autor ist Pastoraltheologe an der Kath.-Theol. Fakultät Graz
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