Die Desertion ins Glück

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Der Bildhauer Karl Bitter - ein großer Österreicher, der in seiner Heimat vergessen, dafür in Amerika eine Berühmtheit ist.

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Der Bildhauer Karl Bitter - ein großer Österreicher, der in seiner Heimat vergessen, dafür in Amerika eine Berühmtheit ist.

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Haben Sie vielleicht zufällig ein fertiges Washington-Denkmal in der Westentasche, Mister Ritter?" "Nein. Wird aber bis heute abend beschafft werden." Mit Dialogen wie diesem charakterisiert Gerhart Hauptmann in seinem 1912 erschienenen Amerika-Roman "Atlantis" die Nebenfigur des jungen Bildhauers Bonifazius Ritter, der, vor wenigen Jahren aus Österreich zugewandert, in New York Karriere gemacht hat und hier inzwischen als die Nr.1 seiner Branche gilt.

Bei dem in so vielen seiner Werke aus dem prallen Leben schöpfenden Naturalisten Hauptmann wundert es uns nicht: Diesen Bonifazius Ritter hat's tatsächlich gegeben! Nur hieß er in Wirklichkeit nicht Ritter, sondern Bitter, und nicht Bonifazius, sondern Karl. Österreich, das Land seiner Herkunft, hat ihn merkwürdigerweise total vergessen, führt ihn in keinem seiner heutigen Lexika - höchste Zeit, es nachzuholen. Dafür begegnet ihm der US-Tourist, der mit offenen Augen die nordamerikanischen Großstädte durchstreift, auf Schritt und Tritt: hier ein Standbild, dort ein Kirchenportal von seiner Hand, ein Grabmal, ein "Memorial", eine Prunkfassade.

Sein Elternhaus steht in der Herklotzgasse im 15. Wiener Gemeindebezirk. Der Vater, Protestant, betreibt einen kleinen Handel mit Drogerieartikeln, die Mutter erzieht die drei Söhne (von denen Karl der mittlere ist) im katholischen Glauben. Aus dem Henrietten-Gymnasium bricht der am 6. Dezember 1867 Geborene und zur Juristenlaufbahn Bestimmte als 14jähriger aus. Fasziniert von der Kunst der Steinmetzgesellen, denen er auf einem der nahen Friedhöfe bei der Arbeit zuschaut, tritt er in die Bildhauerklasse der Wiener Kunstgewerbeschule ein. Sein Lehrer an der Akademie ist der berühmte Edmund Hellmer, dessen Johann-Strauß-Monument im Wiener Stadtpark bis heute zu den begehrtesten Fotomotiven der Österreich-Urlauber zählt.

Flucht vor Militär Um den ohnehin mit seiner Berufsauswahl hadernden Eltern nicht ständig auf der Tasche zu liegen, nimmt Karl jede Gelegenheit wahr, sich auf eigene Beine zu stellen: Er wirkt beim Figurenschmuck des Burgtheater-Neubaus mit, bei der Modellierung der Rossebändiger vor den Hofstallungen, bei den Giebelskulpturen am Innsbrucker Waisenhaus.

Sein Pech ist es, daß er das Untergymnasium ein Jahr vor der Zeit beendet und damit die Möglichkeit verwirkt hat, als Einjährig-Freiwilliger einzurücken: Karl Bitter muß drei Jahre beim Heer dienen, und das, so spürt er, bringt seinen künstlerischen Impetus zum Erliegen. Also nutzt der 21jährige einen zweimonatigen Militärurlaub für einen "Ferialjob" in Berlin, von dem er nicht zur Truppe zurückkehrt: Ein Freund aus Wiener Tagen finanziert ihm die Schiffspassage nach Amerika. Mit schwerem Gepäck geht er am 22. November 1889 in New York von Bord: Keine einzige Kontaktadresse in der Tasche und bar allen Umgangsenglischs, bilden die Skizzenbücher von den Jahren an der Wiener Kunstakademie sein einziges Kapital. Ein Verkehrspolizist, den er radebrechend um Hilfe angeht, sucht ihm aus dem Adreßbuch eine Werkstatt für Fassadendekor heraus: Karl Bitter kommt auf der Stelle als Gehilfe unter und kassiert stolze acht Dollar pro Tag. Vor allem aber: Richard Hunt, einer der führenden Architekten von Manhattan, wird auf das junge Talent aufmerksam und spannt ihn spontan für seinen nächsten Auftrag ein: den Bau eines Landsitzes für den Großunternehmer George W. Vanderbilt.

Das erste Denkmal Auch bei anderen Projekten kann Karl Bitter zeigen, was er im Wien der Nach-Markart-Zeit und Ringstraßen-Ära gelernt hat. Ob ornamentaler oder figuraler Architekturdekor - seine Modelle bedürfen kaum einer Korrektur, können von den Gipsgießern und Steinmetzen eins zu eins umgesetzt werden. Ist es da ein Wunder, daß er aus dem Wettbewerb für die künstlerische Ausgestaltung der Bronzetore der New Yorker Trinity Church als Sieger hervorgeht ? Daß er Auftrag erhält, fürs Verwaltungszentrum der Chikagoer Weltausstellung den Figurenschmuck, fürs Metropolitan Museum of Art die Fassaden-Karyatiden und für den Pennsylvania-Bahnhof von Philadelphia die Skulpturen zu entwerfen?

In Philadelphia ist es auch, wo dem inzwischen 30jährigen, längst Inhaber eines großzügig ausgestatteten Ateliers mit hochqualifiziertem Mitarbeiterstab und bald auch US-Citizen, Ehegatte der einer deutsch-amerikanischen Familie aus Cincinnati entstammenden Marie Schevill sowie Herr über einen eigenen Landsitz am Steilufer des Hudson, der entscheidende nächste Karrieresprung gelingt: das erste Denkmal! Es ist ein Standbild Dr. William Peppers, des Rektors der Universität. Weit über Philadelphia hinaus verbreitet sich die Kunde, daß da ein Künstler am Werk ist, der wie kein zweiter versteht, sich in Charakter und Charisma der von ihm zu Porträtierenden zu versenken, der zu diesem Zweck die aufwendigsten Studien betreibt, ja schließlich in der Geschichte seines Gastlandes USA so beschlagen ist, daß man ihm auch höhere Aufgaben anvertrauen kann: das Reiterstandbild des Bürgerkriegsgenerals Sigel, den Triumphbogen für Admiral Dewey, das Grabmal für Henry Villard, den Erbauer der Pacific-Railroad.

Späte Amnestierung Thomas-Jefferson-Denkmäler von Karl Bitters Hand stehen in Cleveland, Charlottesville und St. Louis; die Bürgermeister von New York, St. Louis und Madison engagieren den Ex-Wiener als Berater, Präsident Roosevelt macht ihn zum Präsidenten der National Sculpture Society.

Nur die Heimat, sie bleibt ihm, dem Deserteur, verschlossen. Erst 1909 gelingt es seinen Wiener Freunden, Bitters Amnestierung zu erwirken: Der 41jährige reist nach Österreich, um seine alten Eltern in die Arme zu schließen; im Waldsteingarten des Praters wird mit den Lehrern von einst Wiedersehen gefeiert. Um einen zweiten Heimatbesuch, bei dem ihn Frau und Kinder begleiten, nützt er sogar zum Arbeiten: In einem Gartenatelier in Hietzing feilt er an den Entwürfen für die Reliefbilder des US-Politikers Carl Schurz und des Erbauers der Pennsylvania-Railroad, Cassatt.

Bitters letzte Arbeit ist ein Brunnen für einen der schönsten Plätze New Yorks: Von der Stiftung des verstorbenen Zeitungsherausgebers Joseph Pulitzer finanziert, soll der Plaza Fountain am Eingang zum Central Park von der Figur einer Nymphe gekrönt sein, die mit offenen Händen Blüten und Früchte unter die Menge streut. Am 10.April 1915 legt Karl Bitter sein Werkzeug aus der Hand, am Abend will er mit seiner Frau, die für die (wegen ihrer Nacktheit nicht unumstrittene) Plastik Modell gestanden ist, mit dem Besuch der Metropolitan Opera die Vollendung des Auftrags feiern. Die Vorstellung ist vorüber, Mr. und Mrs. Bitter verlassen das Theater, wollen den Broadway überqueren, um zu ihrer Straßenbahn zu gelangen, da kommt ein Auto auf sie zugerast. Bitter kann gerade noch seine Frau zurückreißen, er selbst gerät unter die Räder des Wildlings, stirbt an Ort und Stelle, 47 Jahre alt.

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