Die dionysische Gesellschaft

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Essay • Im Wein liegt zwar viel weniger Wahrheit, als man gerne annimmt. Dafür können Rausch und Kater die Schwächen unseres Systems besser erklären als jede graue Theorie.

Die Seele des Weines liegt nicht auf dem Grund einer Flasche, und schon gar nicht in einer Weinbar, obwohl sie dort neuerdings oft bis zur bitteren Neige gesucht wird. Wer dem Wein näher kommen will, der darf nicht zu Hause bleiben. Und wenn er auch hunderte Euros hinblätterte, um die besten Tropfen in einem Restaurant in der Stadt in sich hinein zu kippen, er bliebe doch bloß ein ungeschlachter Rohling. "Um etwas vom Wein zu verstehen, muss man hinaus aufs Land, wo die Rieden stehen.“ Theodor Kramer hat das gesagt, ein Dichter, der viele Jahre seines Lebens im Weinviertel verbracht und diesen Landstrich und seine Menschen in ihrer bitteren Armut und Naturverbundenheit verewigt hat, ganz unromantisch und ohne Herablassung.

Er schrieb Gedichte über die sonnenverbrannten Gesichter der Winzer, ihre abgearbeiteten Hände, die nach vielen Jahren am Weinberg so knorrig und knotig sind wie die alten Rebstöcke, von denen sie im Sommer die Triebe schneiden. Über den Geruch der Maische im Herbst und den feuernden Geschmack des jungen Weins in einer Winternacht. Von den Knechten, die sich hungrig zum sauren Wein die Walnüsse aufschlagen. Vom Erdduft des Weinkellers, seiner feuchten Kühle, seinen langen, tief in den Grund getriebenen Gänge - und die Stille dort. Und dann noch die Verzweiflung der einsamen Trinker, das Vergessen im Rausch der Süchtigen, denen der Alkohol am Ende das Gedärm zerreißt. Das alles ist Wein.

Freilich geht es auch ganz ohne Natur und Schicksal, wenn man die Flüssigkeit im fahlen Licht der Wissenschaft beleuchtet als chemisch zerlegte Substanz: Man nehme 85 Prozent Wasser, 10 Prozent Ethylalkohol, ein Prozent Glyceride, ein Prozent Säuren, und 0,5 Prozent Restzucker, dazu noch zwei Prozent mineralische Substanzen und Polyphenole. Auch das ist Wein.

Aber es ist nicht jener Wein, von dem hier die Rede sein soll. Denn Wein ist ein besonderer Saft, und er verhält sich nicht wie andere Substanzen und Güter. Hier soll es um den Wein als Rauschbringer, Ideenspender, aber auch als Zerstörer gehen. Der Wein als Gabe des mythischen Gottes Dionysos, des ewig Wiedergeborenen, des Herrn über den Wahnsinn und die Inspiration. Diese Geschichten sind so lebendig in ihrer tausendjährigen Tiefe, dass sie uns noch viel von dem erzählen können, was wir heute sind - wie wir leben.

Eine unwiderstehliche Paarung

Botanisch betrachtet, ist der Wein ein durch Sprossranken kletternder Strauch der Art "Vitis vinifera“. Seine Unwiderstehlichkeit besteht in seinem beharrlichen Sich-Ranken um Festeres und Höheres, um Bäume, Sträucher, Häuser. Wenn man ihn lässt, überwuchert er bis zu 20 Meter hohe Waldriesen und Mauern. Er und der Mensch sind seit der Jungsteinzeit ein Paar, artgleich wuchernd und schlingend und niemals zufrieden. Der Wein hat sich vermutlich zeitgleich mit der Sesshaftwerdung und dem Getreideanbau breiten Eingang in die Zivilisation geschaffen, in die Religion, die Politik und in die Ökonomie sowieso. Sogar in die Bibel des Wirtschaftsliberalismus wurde der Wein aufgenommen. Zwölfmal erwähnt ihn Adam Smith im "Reichtum der Nationen“, um ihn am Ende als recht mattes Musterbeispiel für den internationalen Freihandel aufzuführen. Aber wir können die Ökonomie des Weines auch ganz einfach als das Gleichgewicht zwischen Trinken und Abstinenz auffassen. Der römische Kaiser Marc Aurel hat diese Wechselbeziehung in einen schönen Satz gegossen: "Es soll keiner so wenig Wein trinken, dass es seiner Gesundheit schade.“ Der Kaiser hat damit schon das Herz des Themas angesprochen: Den Rausch in all seinen Gestalten. Mit dem Genuss von Wein befreit sich der Mensch schluckweise von Teilen seines Gewissens, oder wie Sigmund Freud gesagt hätte, von der strengen Hand des Über-Ichs. Praktischerweise lässt dazu noch die Psyche dem Es den Vortritt vor dem Ich. Effekt: Die Welt wird für kurze Frist schöner und mit ihr auch das Selbstbild und der Selbstwert des Trinkenden. Das ist ein sehr kommunikativer Zustand und - wenn Nietzsche recht hatte - eines der Ziele der Menschheit: "Jetzt ist der Sklave ein freier Mann, jetzt zerbrechen die starren feindseligen Abgrenzungen, die Not, die Willkür ... jetzt fühlt sich jeder verschmolzen, nicht nur vereint, sondern versöhnt.“ Das ist die schöne Seite des Weines.

Schein und Wahrheit

Auf der anderen Seite sind sehr viele sehr effizient bemüht, Probleme zu vergessen, die ihnen tags darauf samt Katerschmerzen auf den Kopf fallen. Dieser Hang zur Verdrängung ist derart verbreitet, dass Plinius’ Satz "im Wein liegt die Wahrheit“ eine der unverschämtesten Verdrehungen der Drogengeschichte wurde.

Der Ökonom und FURCHE-Kolumnist Tomáˇs Sedláˇcek hat eine aufschlussreiche Parallele zwischen Weltwirtschaft und Rausch entwickelt. Demgemäß verhält sich die Ökonomie wie ein Trinker. Letzterer zieht die möglichen sanften Freuden von Tagen auf wenige Stunden zusammen. Er konzentriert quasi Genuss-Zeit im Rausch. Damit verhält sich der Weinschwangere wie unser Wirtschaftssystem, das die Ressourcen und Vermögen der Zukunft im Jetzt aufhäuft - um periodisch unter schwersten Katererscheinungen abzustürzen.

Dieses Modell ließe sich fortsetzen mit einem Vergleich der aktuellen Schuldenkrise mit den inneren körperlichen Vorgängen während eines solchen "Hangovers“ (siehe auch Seite 15). Wer zu viel Wein trinkt, verursacht in seinem Kreislauf einen rasanten Abfall von Natriumchlorid und Harnstoff. Es kommt zu einem Ungleichgewicht, im Fachjargon "Dysequilibrium“ genannt. Der Körper reagiert auf den Mangel, indem er die beiden Stoffe aus anderen Organen abzieht. Zunächst sind Haut und Gewebe dran, danach, bei der lebensbedrohlichen Vergiftung - auch das Gehirn.

Auf ganz ähnliche Weise wie der Körper des Weintrinkers hat sich die Wirtschaft in der Krise 2008 verhalten. Zunächst wurden Milliarden an Illusionsgeldern fabriziert und wie im Rauschzustand konsumiert. Das entstehende Dysequilibrium wurde vom Staat ausgeglichen, und schließlich zahlt nun der Bürger für die Verluste des Gemeinwesens durch Inflation und höhere Steuern - ein veritabler Finanzkater. Nur dauert der Wirtschaftskater offensichtlich länger als seine menschlich-körperliche Spielart, die auf drei Tage begrenzt ist.

Zwischen Euphorie und Wahnsinn

Die alten Griechen haben die Ambivalenz des Glücks aus den Reben schon in ihren Mythen verewigt und für unsere Zeit vorweggenommen. Sie schufen sich die Figur des Dionysos oder Bakchos und betrauten ihn mit der Herrschaft über den phantastischen Zustand der Euphorie. Gleichzeitig aber machten sie ihn zum Herrn des Wahnsinns.

Beide Elemente spiegeln sich im Wein wider: Euphoria ist die segensreiche Seite des Dionysos, der Zustand der Phantasie, der Ideen und der Leichtigkeit. In der griechischen Wortwurzel bezeichnet es "gut tragend“ und in seiner deutschen Übersetzung "Fruchtbarkeit“ und "Produktivität“. Der Wunsch nach diesem Hochgefühl ist es, der den Wein zum Kultgetränk gemacht hat, in dem oben angeführten menschenfreundlichen, genialen Sinn Nietzsches. Einer der berühmtesten Fälle dieser Sucht betraf den Dichter ETA Hofmann, der sich täglich mit Wein - wie er es nannte - "montieren“ musste, um ein Feuerwerk an Witz und Geist zu entfalten.

Auch die Griechen feuerten sich beim Trinkgelage, dem Symposion, zur Philosophie an. In Platons Dialog "Gastmahl“ geht es beispielsweise um ein solches Stelldichein einiger vom Weinrausch des Vortags schon gezeichneter, belesener Gesellen, die bald zum Entschluss kommen, sich "heute nicht schon wieder‘“ bis zur Besinnungslosigkeit zu "vertrinken“ wie am Vortag, sondern sich in leichter Beschwipstheit von Sokrates die Liebe erklären zu lassen. Als sich die Versammlung am nächsten Morgen auflöst, zeigt sich, dass Sokrates alleine noch in der Lage ist, klar verständliche Reden zu halten über die Gemeinsamkeit von Komödie und Tragödie - die beide auf die Tradition bacchantischer Riten zurückgehen.

Der nüchterne Suchtstifter

In seiner Nüchternheit an jenem Morgen, an dem die meisten seiner Freunde vom Wein ermattet liegen, gleicht Sokrates dem Dionysos. Dieser zeigt sich auf frühen minoischen und thrakischen Darstellungen niemals tanzend oder ausgelassen, sondern ernst im Hintergrund die Szenerie beobachtend. Er zieht zwar seinem lärmenden, trinkenden, kopulierenden Zug von Satyrn und Mänaden voran. Doch er selbst bleibt nüchtern und ohne Regung, ein Suchtstiftender ohne Sucht. Der souveräne Herrscher einer von zwischenmenschlicher Dynamik und Erleuchtungsstreben beseelten und besessenen Masse.

Doch der Gott bleibt nicht immer passiv. Er verhilft der Entgrenzung zum Durchbruch. Mächtige, die seine Eroberungszüge in Kleinasien und Griechenland behindern wollen, weil während der Ausscheifungen auch kleine Kinder und junge Tiere von den Bacchanten zerrissen werden, den schlägt Dionysos mit Wahnsinn, oder er lässt ihn von seinen tanzenden Gefährtinnen, den Mänaden zerfleischen, wie es Pentheus, dem König von Theben passierte. Diese grausame Seite der Weinseligkeit ist es auch, die der Weinliebhaber Goethe im "Faust“ den Mephisto beim orgiastischen Besäufnis in Auerbachs Keller zelebrieren lässt: "Uns ist ganz kannibalisch wohl, als wie fünfhundert Säuen.“

Das dionysische Prinzip

Philosophen sehen die Figur des Dionysos als Teil eines göttlichen Ausgleichsprinzips. Der Sohn des Zeus und der thebanischen Königstochter Semele steht bei Nietzsche und später in der Mythopoetik des Symbolismus für ein bipolares System. Während Apoll, der Hüter des delphischen Orakels, das verhüllende Prinzip der sphärischen Wahrheiten darstellt, verkörpert Dionysos das enthüllende Prinzip, den "unteren Erlöser“, der in engem Zusammenhang mit der Erdmutter steht.

Diese Stellung harmoniert nicht nur mit den tatsächlichen Folgen des Weinkonsums, welche das Untere des in der Psyche Geborgenen zum Ausbruch bringen. In dieser Dionysos-Gestalt ist auch eine Figur des ewigen Kreislaufs des Lebens eingearbeitet: der aus der Unterwelt kommende und in sie zurückkehrende Gott des Wachstums und der Fruchtbarkeit - dessen Wappen-Pflanzen beziehungsvollerweise Leben und Tod beinhalten: das Weinlaub und der Efeu.

Man kann das Ganze natürlich mit weniger religiösem Ernst nehmen. Dann bleibt Wein zumindest im Diesseits ein treuerer Begleiter, als so manche körperliche Fähigkeit, wie Mark Twain sagt: "Trinken ist das letzte Vergnügen, das uns die Jahre nehmen können.“ Manchmal freilich schließt der Wein Freundschaften, die selbst den Tod überdauern wollen. Freilich nur dort, wo er tatsächlich wächst und wuchert, wie die wilden Reime des Abbé Mighan: "Sterb ich, neben einem Weinstock, grabt mir meine Ruhestätte / dass mein Stab, sofern ihn dürstet, immer noch zu trinken hätte.“

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