Die Dokumentation eines Nicht-Ortes

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Ein Leben an der Autobahn ist ein Leben an einem Nicht-Ort: Auf Stelzen steht sie da, Zubringer winden sich an ihr hoch, das konstante Rauschen zeugt von der Geschäftigkeit ihrer Benutzer. Doch auch ein Nicht-Ort kann Heimat sein. Das zeigt Gianfranco Rosi in seinem Dokumentarfilm "Sacro GRA“, dessen Schauplätze am gleichnamigen Autobahnring von Rom liegen; Rosi gewann damit als erster Italiener seit 15 Jahren in Venedig den Goldenen Löwen für den besten Film - und das in jenem Jahr, in dem erstmals auch Dokus im Wettbewerb gleichrangig mit Spielfilmen konkurrierten.

"Sacro GRA“ ist eine mürbe, aber auch skurrile Betrachtung von Menschen, die an der Autobahn leben; Rosi spürt sie mit Akribie auf und begleitet sie ein Stück weit ihres Weges. Es ist eine ungewöhnliche Entscheidung, die die Jury unter dem Vorsitz von Bernardo Bertolucci hier getroffen hat, und doch geht sie in Ordnung. Denn die unzusammenhängenden Sequenzen sind nicht nur Abbild von Heim und Heimat, sie finden auch allerlei Lebensrealität, die man vom (narrativen) italienischen Kino kaum mehr gewöhnt ist: Dort ist oft alles schrill, laut, opulent und betont lebensbejahend; doch das Land steckt in einer Krise, und das fängt Rosi mit seiner Kamera - bewusst oder unbewusst - mit ein: ein Kaleidoskop der Befindlichkeiten einer Nation, die es sich nicht mehr leisten kann, mit stolz geschwellter Brust ihren Patriotismus zur Schau zu stellen.

Zu viel Verlass aufs morbide Ambiente

Das Filmfestival von Venedig hat das bei seiner 70. Jubiläumsausgabe auch gezeigt: Am Lido von Venedig gab es keine Feuerwerke, keine rauschenden Feste und auch keine übertriebene Beflaggung. Die Asbestgrube vor dem Casino, an der ein neuer Palazzo del Cinema hätte entstehen sollen, klafft auch drei Jahre nach dem Aushub unverändert, die Infrastruktur wird von Jahr zu Jahr schwächer, das internationale Interesse schwindet, auch wegen der Konkurrenz des Festivals in Toronto. Venedig verlässt sich auf sein attraktiv-morbides Ambiente - doch das ist auf Dauer zuwenig.

Bei den übrigen Preisträgern dominierte noch einmal Italien: Als beste Darstellerin wurde die 82-jährige Elena Cotta geehrt, der dazugehörige Film "Via Castellana Bandiera“ entwirft ein hysterisch-turbulentes Gesellschaftsporträt Italiens. Eigentlich hatte man mit einem Preis für Judi Dench in Stephen Frears’ Drama "Philomena“ gerechnet, in dem sie eine Frau spielt, die erst Jahrzehnte nach der von irischen Klosterschwestern erzwungenen Adoptionsfreigabe für ihren unehelichen Sohn nach dessen Verbleib zu fragen traut. Für "Philomena“ gab es letztlich nur den Drehbuchpreis. Bester Darsteller wurde Themis Palou in "Miss Violence“, einem griechischen Inzestdrama, für das auch der 36-jährige Alexandros Avranas als bester Regisseur ausgezeichnet wurde. In Ordnung gehen auch die Preise für das wortkarge Drama "Stray Dogs“ des Thai-Chinesen Tsai Ming Liang über die Tristesse von Tagelöhnern in asiatischen Großstädten sowie der Spezialpreis der Jury für den Deutschen Philip Gröning und sein sprödes Beziehungsdrama "Die Frau des Polizisten“ - ein Film, der lange nachwirkt, verhandelt er in 59 Kapiteln und überzogener formaler Strenge doch die unglaublichen Qualen häuslicher Gewalt.

Keine schlechte Auswahl, aber …

Alberto Barbera, der seit zwei Jahren die Mostra del Cinema leitet, hat keine schlechte Auswahl für seinen Wettbewerb getroffen. Zu den Höhepunkten gehörten die Arbeiten von Xavier Dolan ("Tom à la ferme“), die Donald-Rumsfeld-Doku "The Unknown Known“ von Errol Morris oder die Beziehungsstudie "La Jalousie“ von Philippe Garrel. Allein: Der Glanz des Festivals verblasst, solange sich hier strukturell nichts ändert. Es herrscht Stillstand an diesem historischen Ort, ganz im Gegensatz zur immerwährenden Bewegung des Verkehrs auf dem Nicht-Ort der römischen Stadtautobahn GRA.

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