Die doppelte Ästhetik des Korans

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Viele Leser des Korans stellen den Anspruch an ihn, möglichst alle Lebensbereiche der Menschen durch konkrete Aussagen und detaillierte Anweisungen zu regeln. Fakt ist jedoch, dass der Koran nicht einmal die religiösen Rituale der Muslime, wie das rituelle Gebet, genau beschreibt. Muslime können also aus dem Koran nicht genau ableiten, wie sie ihr tägliches Gebet zu verrichten haben, ja nicht einmal, dass sie fünf Mal am Tag beten sollten. Es ist also nicht der Selbstanspruch des Korans, diese Details zu regeln; er sieht sich an erster Stelle keineswegs als juristisches Buch.

Der Koran selbst spricht an vielen Stellen davon, dass er rezitiert werden will, zugleich will er nicht gelesen, sondern primär gehört werden, um durch seine Ästhetik die Herzen seiner Rezitatoren bzw. seiner Zuhörerschaft zum Pulsieren zu bringen. Er will die Menschen emotional erreichen. Dabei konfrontiert der Koran die Menschen nicht nur mit dem Schönen in der Welt, in der Natur, in der Geschichte, in sich selbst, sondern auch mit dem Erhabenen. Während das Schöne das Harmonische zwischen Mensch und Welt beschreibt, stellt das Erhabene die andere Realität der Welt dar, die nicht nur von Harmonie, sondern zugleich von Disharmonie gekennzeichnet ist. Doch gerade der Verweis auf diese Disharmonie in Natur und Geschichte, aber auch in uns selbst, will uns herausfordern, uns dazu zu verhalten und ihr Widerstand zu leisten. Friedrich Schiller spricht von der doppelten Ästhetik: die des Schönen und die des Erhabenen. Wobei beide keine Eigenschaften der Objekte an sich sind, sondern die hervorgerufenen Emotionen in uns Menschen beschreiben, mit dem Ziel, das Schöne, aber auch das Erhabene im Menschen, der die Harmonie in der Disharmonie wiederherstellen will, hervorzuheben. Und genau das ist der Anspruch der koranischen Doppelästhetik.

Der Autor leitet das Zentrum für Islamische Theologie an der Uni Münster

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