Die Enthüllung von Arimathäa

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Eine Erzählung.

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Eine Erzählung.

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Die Tonqualität ist nicht gerade atemberaubend", sagte der junge Mann, der sich am Telefon als Mitarbeiter eines Nachrichtenmagazins ausgegeben hatte. "Ich vermute, daß die Aufnahme mit einem ganz billigen Diktiergerät gemacht worden ist. Man muß ganz genau hinhören, um zu verstehen, was die beiden reden." "Kein Problem", sagte ich, "spitzen wir die Ohren."

Mein Besucher packte einen kleinen Cassettenrecorder aus und stellte ihn auf den Tisch. Das Tonband, das er mir vorspielen wollte, war bereits eingelegt.

"Und mit diesem Gerät hier", sagte er, während er noch einen zweiten kleinen Cassettenrecorder hervorzauberte, "werde ich Ihre Kommentare aufnehmen, wenn Sie erlauben. Ich bin schon gespannt, was Sie sagen werden."

"Ich auch", sagte ich. Denn zu diesem Zeitpunkt war mir durchaus nicht klar, was ich von all dem halten sollte. Irgendein Publizistikstudent hatte mich gebeten, irgendein Interview anzuhören, in dem es um biblische Probleme ging. Weil er mein Buch "Die Jesusfälscher" gelesen hatte, war er auf die Idee gekommen, ich wäre der richtige Gesprächspartner für dieses Thema.

"Ich will nicht wissen, ob Sie dieses angebliche Interview mit Josef von Arimathäa gut oder schlecht finden", hatte er gesagt, "sondern Sie sollen mir sagen, ob das, was hier gesagt wird, Ihrer Meinung nach vertretbar ist oder nicht."

Dieses Interview, behauptete er, sei ihm auf mysteriöse Weise zugespielt worden, er könne daraus einen richtigen Knüller für die Osternummer machen, wurde ihm versprochen. "Aber möglicherweise ist das Ganze nur ein böser Aprilscherz", sagte der junge Journalist, "vielleicht stecken die Kollegen in der Redaktion dahinter."

"Hören wir uns die Geschichte einmal an, bevor wir voreilig irgendwelche Theorien aufstellen", schlug ich vor.

Der Student schaltete das Band ein. Die Tonqualität war tatsächlich unter aller Kritik. Man mußte sich anstrengen, um alle Sätze zu verstehen. "Sie sind der Mann, der Jesus begraben hat", sagte eine Stimme im typischen Talkmastertonfall.

"Wer behauptet das?" erwiderte der andere.

"Die Bibel", antwortete der Talkmaster.

"Na und?" gab der andere zurück: "Glauben Sie alles, was in der Bibel steht?"

"Ich bin gläubiger Katholik", verteidigte sich der erste.

"Auch als gläubiger Katholik dürfen Sie die Bibel kritisch lesen. Sie müssen es sogar tun, wenn Sie die Botschaft so verstehen möchten, wie sie gemeint ist. Oder sind sie am Ende ein Fundamentalist?"

"Was verstehen Sie unter einem Fundamentalisten?"

"Jemanden, der glaubt, daß die Welt in sechsmal vierundzwanzig Stunden erschaffen worden ist. Oder daß ein Walfisch einen Menschen mit Haut und Haar verschlucken und wieder ausspeien kann. Oder daß auf dem Berg Ararat Trümmer einer Arche zu finden sind. Kurz und gut, ein fundamentalistischer Leser der Bibel ist jemand, der in der Bibel alles für geschichtlich hält, was in der Vergangenheitsform erzählt wird, auch wenn es gar nicht den Anspruch erhebt, historisch gemeint zu sein."

"Wollen Sie damit sagen, das Begräbnis Jesu, wie es in den Evangelien geschildert wird, erhebt nicht den Anspruch, historisch gemeint zu sein?"

"Genauso wenig wie der Stern der Weisen aus dem Morgenland oder der Kindermord durch König Herodes und all die anderen symbolisch zu verstehenden Geschichten. Das ist Theologie in erzählter Form. Wenn Sie deren Bildersprache nicht entziffern können, wie wollen Sie dann überhaupt den tieferen Sinn verstehen!"

"Na schön. Daß die Geschichte von Jona und dem Wal symbolisch gemeint ist und bildhaft den Glauben ausdrückt, daß Gott auch in größter Not retten kann, begreift jedes Kind. Aber die Grablegung Jesu ist doch etwas anderes."

"Wieso?"

"Weil es sich bei der Grablegung Jesu im Unterschied zu gefräßigen Meeresungeheuern und Sintflutmythen um ein höchst reales Geschehen handelt."

"Ist Ihnen wirklich noch nie in den Sinn gekommen, bei dieser Geschichte gehe es nicht mit rechten Dingen zu?"

"Nein. Ehrlich gesagt, noch nie."

"Das wundert mich. Denn Sie sehen mir nicht danach aus, als ob Sie zu den Leuten zählen, die, wenn Sie ins Theater gehen, den Verstand an der Garderobe abgeben. Lesen Sie die Geschichte vom Begräbnis Jesu einmal mit der Brille eines Kriminalkommissars. Würden Sie es für bare Münze nehmen, wenn Ihnen ein Tatverdächtiger erzählt, was Ihnen hier Matthäus, Markus, Lukas und vor allem Johannes erzählen?"

"Warum nicht?"

"Hier wird behauptet, ich hätte Jesus begraben, und ein paar Frauen hätten zugeschaut. Wo waren denn die Apostel?"

"Die hatten sich doch versteckt, weil sie Angst hatten, es könne ihnen ebenfalls an den Kragen gehen."

"Na eben. Und ich - oder mein Kollege Nikodemus, der nur bei Johannes erwähnt wird, wir brauchten keine Angst zu haben?"

"Sie und Nikodemus gehörten doch zu den Chefs. Sie waren Mitglieder des Hohen Rates. Ihnen beiden konnte doch nichts passieren."

"Nichts passieren? Daß ich nicht lache. Vergessen Sie nicht, ich war reich. Ich hatte mehr zu verlieren als das Häuflein dieser galiläischen Bettelmönche. Wenn ich nichts zu befürchten gehabt hätte, wieso war ich dann nur im geheimen ein Jünger Jesu? Finden Sie es nicht sonderbar? Aus ,Furcht vor den Juden' wage ich nicht, mich offen zu Jesus zu bekennen, solange Jesus am Leben war, aber kaum ist er tot, oute ich mich, wie man so schön sagt, und bitte Pilatus um den Leichnam Jesu! Was für eine Liebe zu Jesus ist das eigentlich? In der Nacht, als Jesus vor den Hohen Rat zitiert wird, halte ich den Mund und wage es nicht, den falschen Zeugen zu widersprechen, sondern mache mich mitschuld an seiner Verurteilung. Aber wenige Stunden später reiße ich mich drum, ihn unbedingt zu begraben!"

"Es war eine Frage der Pietät. Als frommer Jude konnten Sie nicht zulassen, daß der Gekreuzigte unbegraben blieb und den Sabbat entweihte."

"Sie machen es sich ein bißchen zu einfach, finde ich. Wenn dieser Josef von Arimathäa, von dem die Bibel erzählt, so gedacht hätte, dann hätte er auch die beiden Schächer begraben."

"Dafür war keine Zeit. Der Sabbat war schon im Anzug."

"Wenn Sie wie ein Kriminalkommissar denken würden, wäre ihnen aufgefallen, daß sich das alles gar nicht ausgeht in der kurzen Zeit: zu Pilatus gehen, den Tod amtlich feststellen, sich den Toten freigeben lassen, ihn vom Kreuz nehmen, in den Basar gehen, reine Leinwand kaufen, einbalsamieren, einwickeln, beisetzen, Stein davor wälzen."

"Ich nehme an, Sie werden Helfer gehabt haben."

"Wen denn? Noch ein paar heimliche Jünger, die sich mutwillig outen, während sich die behördlich bekannten verbarrikadieren? Lesen Sie, was Johannes über Nikodemus schreibt!"

"Ich weiß nicht, was Sie meinen."

"Er brachte eine Mischung aus Myrrhe und Aloe, etwa hundert Pfund. Finden Sie das nicht komisch? Hundert Pfund Myrrhe und Aloe, das ist schwerer als ein Sack Zement! Das sind ungefähr 32 Kilo. Bei dieser Menge hätte der tote Jesus eine Badewanne als Sarg gebraucht. Er wäre geschwommen in den Spezereien ..."

"Und jetzt passen Sie auf", flüsterte mir der Student zu, "jetzt kommt's!" "Ich will Ihnen etwas sagen. Mich hat's überhaupt nicht gegeben. Der Pontius Pilatus ist aus historischen Gründen in die Passionsgeschichte gekommen. Weil er Jesus zum Tod verurteilt hat. Aber ich? Ich bin aus Glaubensgründen hineingeraten. Ich bin ein Bild dafür, daß Jesus wirklich der Messias ist", sagte die Stimme auf dem Tonband.

"Jetzt kapier' ich überhaupt nichts mehr", erwiderte der andere.

"Was kann ich dafür, daß Sie als gläubiger Katholik die Bibel nicht gut genug kennen und nicht wissen, was zur Zeit, als die Evangelien geschrieben wurden, noch jedes Kind wußte: Seht her, dieser Josef von Arimathäa ist die Bestätigung dafür, daß Jesus wirklich der Messias ist. Schließlich heißt es schon beim Propheten Jesaja vom Gottesknecht: Bei Verbrechern bestimmte man sein Grab und bei Reichen seine Gruft, obgleich er niemals Unrecht tat und kein Trug in seinem Munde war."

Der junge Mann drückte die Off-Taste und sah mich erwartungsvoll an. "Meinen Sie, daß man das veröffentlichen kann?"

"Warum nicht", sagte ich. "Enthüllung ist es zwar keine, aber es gibt Leser genug, denen die einfachsten bibeltheologischen Einsichten vorkommen wie sensationelle Enthüllungen."

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