Fasten Diät Gott - © Foto:  Markus Spiske / temporausch.com / Pexels

Die Entwicklung des Fastens – von der Suche nach Gott zum Diätwahn

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Fasten hatte ursprünglich nichst mit Abnehmen zu tun, sondern war ein Weg zu Gott. Heute geht es nicht mehr um Seelenstimulanz sondern Bodyshaping. Doch die neue Wellnessreligion könnte schneller an Sinnleere sterben, als manche denken.

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Fasten hatte ursprünglich nichst mit Abnehmen zu tun, sondern war ein Weg zu Gott. Heute geht es nicht mehr um Seelenstimulanz sondern Bodyshaping. Doch die neue Wellnessreligion könnte schneller an Sinnleere sterben, als manche denken.

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Die ganze Geschichte begann ja bereits im Fasching. Aber just um den Aschermittwoch stellte sich dann heraus, dass ausgerechnet ein steirischer Fastenkäse sich nicht nur als lebensbedrohliche, sondern als tödliche Listerienschleuder entpuppte. Kein Einzelfall, aber doch ein höchst seltener: Die letzten Todesfälle in Zusammenhang mit Käse liegen Jahrzehnte zurück und spielten sich in der Schweiz ab, wo der — zwischenzeitlich verbotene und mittlerweile mit regenerierten Bakterienstämmen wieder marktfähig gemachte – Vacherin Mont d’Or ebenfalls einige ältere Menschen das Leben gekostet hatte.

Dabei schmeckte der Vacherin zum Sterben gut. Was ich vom Hartberger Fastenkäse wahrlich nicht behaupten würde. Wenn sich solche Fälle in Zukunft häufen, wäre es indessen durchaus vorstellbar, dass wir auf den Verpackungen unserer Diätprodukte bald eine schwarz umrandete Aufschrift „Fasten kann tödlich sein“ lesen werden. Dabei kommt das Fasten zu diesem Imageeinbruch wie die sprichwörtliche Jungfrau zum Kind. Denn, so paradox das möglicherweise klingen mag: Mit Diät hat das Fasten in seiner langen Geschichte niemals etwas zu tun gehabt.

Fasten, Gebet und Almosen

Fasten war bis vor ganz kurzer Zeit nämlich kein Mittel zum Abnehmen, sondern ein Weg, der zu Gott führte. Neben Gebeten und Almosen zählte es zu den drei Säulen der alttestamentarischen Religion. Jesus selbst begründete dann die neutestamentliche Fastentradition, indem er sich vierzig Tage in die Wüste zurückzog (Mt 4,2), worin es ihm schon zwei Jahrhunderte später die Wüstenväter gleichtaten und dabei das Fasten als Meditationstechnik entwickelten, die sich im Hesychasmus der orthodoxen Kirchen in ihrer ursprünglichen Form erhalten hat. Durch Fasten – so ist man zwischen Berg Athos und den Moldauklöstern bis heute überzeugt – kann man dank eines Zustands völliger innerer Ruhe (griech. hesychia) zu einer „Gottesschau“ gelangen, die sich in mystischen Lichtvisionen äußert.

Mit Diät hat das Fasten in seiner langen Geschichte niemals etwas zu tun gehabt.

Ähnlich meditative Techniken findet man etwa bei Ignatius von Loyola und Hildegard von Bingen, aber auch in so gut wie allen Weltreligionen. Skeptisch zu diesem Thema äußerte sich lediglich Konfuzius: „Bei drei Dingen riet der Meister zu äußerster Vorsicht“, liest man im Buch Lunyu, „bei Fasten, Krieg und Krankheit.“ Vielleicht hat der chinesische Weise ja schon ein halbes Jahrhundert vor Christi Geburt geahnt, wie sehr sich die Technik des Fastens zur Vereinnahmung durch Unberufene und zur Kommerzialisierung eignet.

Denn was immer Fasten, als die großen Religionen entstanden, gewesen sein mag: Heute ist daraus etwas völlig anderes geworden. Wer auf Amazon den Begriff Fasten eingibt, kann sich in gezählten 7861 Ratgebern über Saftfasten, Basenfasten, Heilfasten nach F. X. Mayer, Fasten nach Montignac oder dem glykämischen Index, metabolisches Fasten „ganz ohne Fasten“ – und neuerdings sogar über Klimafasten belehren lassen. An zeitgeistigen Trittbrettfahrern der ursprünglich rein spirituellen Fastendimension fehlt es also nicht. Längst ist das Fasten von einem Medium der Seelenstimulanz zu einem Mittel des Bodystylings geworden. Oder, philosophisch formuliert: Es wurde von einem integrierenden Bestandteil von Mystik und Transzendenz zu einer einträglichen Disziplin des Materialismus. Nicht mehr der Übergang von der Weltsicht zur Gottschau ist jetzt der wesentliche Fastenantrieb, sondern die Aussicht, im sich abzeichnenden Wettbewerb um ein möglichst langes Leben bei möglichst bester Gesundheit nicht auf der Verliererstraße, sondern auf der Zielgeraden zu landen.

Das Fasten wurde von einem integrierenden Bestandteil von Mystik und Transzendenz zu einer einträglichen Disziplin des Materialismus.

Wettbewerb statt Erkenntnis, so scheint das Motto der Neo-Faster zu lauten, die, wie eine deutsche Studie unlängst ergab, bereits auf jeden zweiten Deutschen als Sympathisanten und auf immerhin 17 Prozent der Bevölkerung als Aktivisten zählen kann. Doch nicht nur in Deutschland hat sich in weiten Teilen der Bevölkerung die Überzeugung durchgesetzt, dass unser Leben nicht mehr in Gottes Hand, sondern in jener der Ernährungsmediziner und Diätassistentinnen liegt.

Reinigung von Zivilisationsmüll

Auch wenn die Kirchen alle Jahre wieder um die Zeit des Heringsschmauses massiv auf ihre Fastenkompetenz pochen, so ist ihnen diese in Wahrheit schon lange entglitten – und dient in der modernen Medienwelt allenfalls noch als atmosphärische Folie, um verzückte Priester und Nonnen im Fernsehen für Fastenjoghurt werben zu lassen. Spätestens seit Beginn der 90er-Jahre huldigt unsere Gesellschaft einem zwischen schönheitstrunkenem Diätwahn und molekularer Geschmacksexplosion angesiedelten frugalen Hedonismus, der die Fastenidee als Transportmittel für seine Ideologie der genussfreien Genusssucht entdeckt hat.Mittlerweile haben sich neben den Kirchen daher auch allerlei freiberufliche Seelenkonsulenten einer zunehmend fastenwilligen Klientel angenommen, die zwar nicht mit Erleuchtung, dafür aber umso überzeugender mit diesseitsbezogenen Benefits wie innerer Ruhe, Abschalten, Befreiung von Zwängen, Schutz vor Burnout, Entschlackung von Nahrungs-Junk und Reinigung von Zivilisationsmüll werben. Das Fasten wird, einmal als Antithese zum modernen Lifestyle erkannt, selbst zum Teil dieses Lifestyles. Oder anders formuliert: Das Fasten, als spätmittelalterliche ars moriendi (Kunst des Sterbens) ursprünglich eine Form des „Todesstils“, ist definitiv zu einer Form des Lebensstils geworden.

Das Fasten wird, einmal als Antithese zum modernen Lifestyle erkannt, selbst zum Teil dieses Lifestyles.

Was aber ist inzwischen passiert? Der Hauptgrund für die neue Popularität des Fastens abseits der Transzendenz ist wohl die gegenwärtige Suche unserer globalisierten Welt nach einer vom Soziologen Max Weber so benannten „Diesseitsreligion“ in dem vom Philosophen Charles Taylor erst unlängst ausgerufenen „säkularen Zeitalter“, das „unsere Natur als Vernunftwesen in den Mittelpunkt stellt“ und „Transzendenz als Risiko“ begreift.

Ein Licht, das Käse und Joghurt überstrahlt

Auf dieser Basis lässt sich zurzeit ein recht produktiver Wettbewerb von Ideen und auch Kandidaten für eine – in Ausbildung begriffene – säkulare Weltreligion beobachten, die stark aus diversen Begrifflichkeiten der political correctness schöpft, aber auch in neuen Medien wie Facebook & Co. tief verankert ist.

Wie diese Religion beschaffen sein wird, lässt sich – das sieht auch Taylor so – gegenwärtig noch sehr schwer voraussagen. Fest steht jedoch, dass eine säkulare Weltreligion, sollte sie erfolgreich sein oder gar das 2000-jährige Christentum ablösen wollen, vor allem ein solides Fundament an konkreter Lebenshilfe bieten muss. Und dazu gehört nun einmal, wie in jeder echten Weltreligion, auch eine attraktive Diätetik, sprich: ein schlüssiges und hilfreiches (oder zumindest hilfreich scheinendes) Fastengebot.

Die Kirche tut dennoch gut daran, ihr Fastenangebot (denn tatsächlich handelt es sich nach der Lockerung der Fastenvorschriften durch das Zweite Vatikanum viel eher um ein Angebot als um ein Gebot) weiterhin aufrechtzuerhalten. Denn wer weiß, ob die zurzeit durch unterschiedlichste Industrie-Lobbys noch bestens abgefederte „Wellnessreligion“, wenn sich erst einmal herausgestellt haben wird, „dass viele der Übel, für die die (kirchliche) ‚Religion‘ verantwortlich sein soll, nicht verschwinden werden“ (Charles Taylor), nicht ebenso schnell an Sinnleere dahinsterben wird, wie sie gekommen ist. Und vielleicht erwacht dann ja auch beim einen oder anderen die Sehnsucht, beim Fasten statt Käse und Joghurt wieder ein Licht zu schauen – welches auch immer.

Christoph Wagner

Der Autor ist einer der führenden Gourmetkritiker des Landes. „Er bewertet die Philosophie des Kochs“, schrieb Toni Mörwald einmal über Wagner in der FURCHE. Seine Kochbücher und Wirtshausführer („Wo isst Österreich?“) sind Bestseller, nicht nur in quantitativer Hinsicht.

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