"Das weiße Band": Die Farbe der Schuld

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Eine hermetische Gesellschaft in Norddeutschland am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Zu Michael Hanekes grandiosem Cannes-Siegerfilm „Das weiße Band“.

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Eine hermetische Gesellschaft in Norddeutschland am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Zu Michael Hanekes grandiosem Cannes-Siegerfilm „Das weiße Band“.

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Weiß sind die beiden Bänder, die Klara und Martin, die ältesten Kinder des Pfarrers, von ihren Eltern angebunden bekommen – als Zeichen der Schuld. Keine großen Sachen scheinbar – die beiden sind nicht nach Hause gekommen, wie sie sollten. Aber die Ordnung, dieses alles übertünchende Prinzip jener Gemeinschaft, darf nicht durchbrochen werden. Jede Störung ist zu ahnden – und gerade wenn es die Kinder des Pfarrers sind, darf keine Milde walten.

Eine feste Burg ist unser Gott. Wären die Tore offen, hätten Eindringlinge leichtes Spiel. Darum ist auch dieses norddeutsche Dorf trotz der Weitläufigkeit der Marschen, in denen es liegt, hermetisch abgeriegelt. Diese Gesellschaft am Vorabend des Ersten Weltkriegs weiß, dass Offenheit den Tod bedeutet und Freiheit Sünde ist. Darum herrscht der Pfarrer mit harter Hand, und der Gutsherr, wiewohl ungeliebt, gebietet über seine von ihm Abhängigen.

Die Zerstörung von Kinderseelen

Doch der durch den Hermetismus ersteifte Schein ist brüchig geworden: Der Arzt, Honoratior wie der Pfarrer, aber bei Weitem nicht so gottesfürchtig streng lebend wie dieser, wird durch einen unsichtbaren Draht, über den sein Pferd stolpert, zu Fall gebracht. Wer hat ihn gespannt? Der Arzt muss lange ins Krankenhaus. Derweil kommt die Tochter eines Lohnbauern im Sägewerk des Gutsherrn auf rätselhafte Weise zu Tode. Der Sohn der Gutsherrn wird während eines Dorffestes halbtot geprügelt – und ebenso, ein wenig später, der geistig behinderte Sohn der Hebamme.

Die Chronik eines, ach, gar herzigen Dorflebens, erzählt vom alten Dorfschullehrer Jahre später. Doch auch die Erinnerung hat das karge Leben jener Tage nicht verklärt. Denn diese Erzählung handelt von der Beengtheit menschlichen Geistes und von der Zerstörung von Kinderseelen. Aber sie bleibt nicht dabei stehen. Denn hinter der Fassade baut sich drohend die Frage auf, ob diese veräußerten Seelen nicht auch ihrerseits an der Zerstörung der Gemeinschaft herumwerkeln – einer bigotten Lebenswirklichkeit, die dennoch, solange das Korsett hielt, auch Geborgenheit bot. Ernüchterung bis zum – bitteren ? – Ende: Denn wenn die mit den weißen Bändchen gebrandmarkte kleine Schuld abgelöst wird durch übergroße Fehlbarkeit, dann bricht auch die übergroße (Selbst-)Gerechtigkeit wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Verdrängung lautet die Überlebensstrategie dann. Ein Zeitgenosse von damals – Sigmund Freud – hat das bekanntlich entdeckt und beschrieben.

Die Liebe in diesem Dorf hat etwas Linkisches und die Eheanbahnung erst gar: Wie kann ein bettelarmer Dorfschullehrer um die Hand einer biederen Handwerkerstochter anhalten? Und Ehen, die keine sind: Die Arztfrau ist verstorben, die Hebamme treibt es mit dem Dorfmediziner ohne den Segen der Kirche, und im Gutshaus gibt es nach der Misshandlung des Sohnes nichts mehr, was die Frau dort mit ihrem Mann gemein hat. Unerfüllte Sexualität, Kindesmissbrauch, subtile Gewalt, die unermesslich werden kann: Ein kleiner Vogel, der den Pfarrer beim Predigtschreiben erfreut, findet sich auf dessen Schreibtisch wieder – mit einer Schere durchbohrt.

(Alt-)Meister der filmischen Unerbittlichkeit

Grandios hat Michael Haneke in seinem Cannes-Siegerfilm „Das weiße Band“ ein filmisches Tableau zusammenkomponiert, das seinesgleichen sucht: Bis in kleinste Verästelungen der Handlung zieht sich die Unausweichlichkeit, in der dieses Dorf eingespannt ist. Ein Haneke-Film par excellence: Nein, der (Alt- )Meister der filmischen Unerbittlichkeit hat es nicht mehr nötig – wie zuletzt noch in seinem eigenen Remake „Funny Games U.S.“ –, eine Familie auf der Leinwand sinnlos abschlachten zu lassen. Es sind die Abgründe der Seelen, die sich in diesem Mikrokosmos manifestieren, und die in den Händen von Österreichs Regiestar zur großen Filmerzählung werden.

Ein von Perfektion Besessener hat gewütet – zu Recht gab es dafür die Goldene Palme 2009. Gefilmt in Farbe und am Computer dann als „Das weiße Band“ zum Schwarzweißfilm gemacht.

Nicht nur, dass sich Schwarzweiß zur Charakteristik jener Zeit des beginnenden 20. Jahrhunderts in den Köpfen festgesetzt hat. Auch die klaustrophobe Verwobenheit einer Gesellschaft in Schuld hat für Farbe keine Verwendung. Nur logisch, dass Weiß hier die Farbe der Schuld ist und Grautöne das Leben beherrschen. Ein künstliches Weiß-Grau-Schwarz, das mit der Technik der Schwarzweißfilm-Zeit nichts mehr gemein hat, sondern auch als programmatisches Statement herhält.

Sorgfältig wie die Bilder und Farben des Films ist auch die Besetzung komponiert – große deutsche Schauspielnamen (Birgit Minichmayr, Detlev Buck) findet man auch in kleinen Rollen. Susanne Lothar als Hebamme und Ursina Lardi als Gutsfrau bleiben nachhaltig in Erinnerung, ebenso Josef Bierbichler als Verwalter, Branko Samarovski als Bauer und Ulrich Tukur als Gutsherr. Man müsste alle in diesem Ensemble würdigen, das unter der Spannung der Pole zwischen jungem Dorflehrer (Christian Friedel) und dem Pfarrer (Burghart Klaußner, wahrscheinlich die eindrücklichste Darstellung in diesem eindrücklichen Film) steht.

Religion der Verengung

Bei aller Verwobenheit von Schuld und der Verstrickung beinahe aller in alles kommt dem hier gemalten Bild der Religion aber besonderes Augenmerk zu. Das Christentum in seiner lutherischen Spielart wird da zum Prototyp einer Verengung, die sich gar weit von den Möglichkeiten dieser Religion entfernt hat: Nein, hier ist keine befreiende Frohbotschaft möglich und auch vom Gott der Barmherzigkeit keine Rede mehr. Barmherzig – „zum Besten für euch“ – sind der subtile Pranger des „weißen Bandes“ oder die Schläge, welche die Kinder für vermeintliche oder tatsächliche Unbotmäßigkeit erfahren. Gefühl und dessen Ausbruch toleriert diese Religion nicht. Nicht Schuld und Sühne à la Dostojewski zeigt Haneke, sondern den Tod einer Gesellschaft, der durch den folgenden Großen Krieg dann auch vollzogen wird.

Wer hätte bei Haneke denn auch erwartet, dass die Aussichten rosig sind? Es war gut, dass der Hauptpreis von Cannes so lang auf sich warten ließ: „Das weiße Band“ ist das Meisterwerk dieses Regisseurs.

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