"Die Flüchtlinge mitgestalten lassen"

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Wie sich aus einem Flüchtlingslager eine Stadt entwickeln kann, und welches Potenzial in solchen Charter-Städten steckt, erklärt Kilian Kleinschmidt, UNICEF-Leiter des größten jordanischen Lagers.

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Wie sich aus einem Flüchtlingslager eine Stadt entwickeln kann, und welches Potenzial in solchen Charter-Städten steckt, erklärt Kilian Kleinschmidt, UNICEF-Leiter des größten jordanischen Lagers.

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Mit einem visionären Zugang hat der deutsche Entwicklungshelfer Kilian Kleinschmidt den syrischen Flüchtlingen im Lager Zaatari zu einem selbstbestimmten Leben verholfen.

DIE FURCHE: Wiesehr hat sich das jordanische Lager Zaatari zur Stadt entwickelt?

Kilian Kleinschmidt: In den letzten zwei Jahren hat sich das Flüchtlingslager schnell zu einem urbanen Zentrum mit nun 80.000 Einwohnern entwickelt. Es ist eine Wirtschaftskultur entstanden, die Syrer betreiben regen Handel mit den jordanischen Geschäftsleuten. Das Beispiel Zaatari zeigt, wie sich Menschen ihren neuen Lebensraum aneignen und ihr Leben individuell gestalten.

DIE FURCHE: Anfangs gab es viel Gewalt im Lager. Was musste sich ändern?

Kleinschmidt: Jeder Versorgungs-Standard war bald erreicht, aber es gab keinen Dialog mit den Bürgern. Typische Slum-Strukturen haben sich entwickelt. Also mussten wir uns direkt an die Einzelnen wenden, um die mafiösen "Street Leaders" zu umgehen. Durch simple Win-Win-Situationen versuchen wir, die Leute auf unsere Seite zu holen.

DIE FURCHE: Werden nicht mit dem Flüchtlingsstrom alte soziale Probleme in die Charterstädte importiert? Korruption, mangelnde Sicherheit, instabile Verhältnisse.

Kleinschmidt: Wir konnten die Kriminalität auf quasi Null herunterfahren, indem wir die Leute in den Wirtschaftszyklus einbinden. Die einzige Verbindung armer Slumbewohner zum 21. Jahrhundert ist heute oft das Handy. Also lassen wir diese Leute mittels "smart technologies" wirtschaftlich teilhaben: Noch heuer werden alle Haushalte in Zaatari eine "Debitcard" haben, mit der sie im Supermarkt einkaufen können. Wir verteilen keine Hilfsgüter, was als sehr entwürdigend empfunden wird, sondern lassen die Menschen ihre Produkte selbst aussuchen.

DIE FURCHE: Welches Potenzial räumen Sie solchen aus dem Boden gestampften Charter-Städten in ärmeren Ländern ein?

Kleinschmidt: Die moderne Städteplanung, ein intelligentes öffentliches Management, eine gute Infrastruktur können Unwahrscheinliches leisten. Dieses Konzept könnte sicher noch viel weiter getragen werden, wenn man sich die Urbanisierung im 21. Jahrhundert vor Augen führt. Wir überlegen uns gerade, wie man westliche Modelle von erfolgreichem Städtemanagement exportieren kann. Heute managt ja eine Firma einen ganzen Flughafen.

DIE FURCHE: Besteht hier nicht eine neoliberale Gefahr in diesen neuen Städten?

Kleinschmidt: Ja. In Pakistan oder Indien haben Privatfirmen "model towns" entwickelt, in die sich Besserverdiener zurückziehen. Der öffentliche Sektor müsste die Expertise für das Infrastruktur-Management bereitstellen. Deshalb haben wir in Zaatari die Städte Amsterdam und Marseille als Planungspartner eingebracht, kooperieren mit den dortigen Verkehrsbetrieben und Wasserwerken.

DIE FURCHE: Welche politischen Strukturen herrschen in Zaatari?

Kleinschmidt: Wir arbeiten von ganz unten mit kleinen Komitees in jedem der zwölf Bezirke. Es gibt Konsultationen mit allen Beteiligten, um Organisatorisches zu diskutieren. Humanitäre Hilfe ist langfristig zu teuer. Die Leute müssen ihre Arbeits- und Bildungsmöglichkeiten selbst gestalten.

DIE FURCHE: Die Stadt Zaatari wird unabhängig von den Flüchtlingen weiterbestehen. Kann man all das, was die Flüchtlinge in Europa suchen, vor Ort so schnell installieren?

Kleinschmidt: Nein, Universitäten etwa nicht. Jeder Migrant, der im Ausland erfolgreich ist, trägt viel effektiver zum Wiederaufbau des eigenen Landes bei als jede Entwicklungshilfe.

DIE FURCHE: Finanziert werden sollen Charterstädte durch westliche Gelder. Eine Fortschreibung des Imperialismus?

Kleinschmidt: Nein. Globalisierung hat auch positive Seiten, wenn wir Hilfe zur Selbsthilfe leisten. Was ist daran schlecht, wenn wir die richtige Mischung von Infrastruktur, Sozialsystem und politischer Organisation implementieren?

DIE FURCHE: Was brauchen Flüchtlinge noch außer einer Grundversorgung?

Kleinschmidt: Flüchtlinge haben individuelle Bedürfnisse, brauchen Privatsphäre. Im humanitären Bereich werden sie allzu oft als Masse betrachtet. Doch diese Menschen müssen wieder an Würde und Selbstvertrauen gewinnen. Es ist sehr entwürdigend, in einer Suppenküche anzustehen und dasselbe zu essen wie 50.000 andere.

DIE FURCHE: Wiesehr ist das Lagerleben von den Traumata gezeichnet?

Kleinschmidt: Sobald die Menschen im Lager eingerichtet sind, schlägt ihr Trauma durch. Man muss ihnen die Möglichkeit geben, das Erlebte gemeinschaftlich aufzuarbeiten, etwa durch kulturelle oder sportliche Aktivitäten. Gemeinsam mit UEFA haben wir ein großes Fußballprogramm aufgebaut, wo auch Mädchen mitmachen. Wir haben auch ein großes Kinderkunst-Projekt, es gibt Fotografie, Drama, Zeichnen etc.

DIE FURCHE: Sie geben Ihre Funktion als UNI-CEF-Leiter von Zaatari bald auf. Und nun?

Kleinschmidt: Ich baue ein globales Netzwerk auf, das die Ressourcen von Wirtschaft, Städten sowie Forschung verknüpft und in Slums, Flüchtlingslagern, Krisenund Wiederaufbaugebieten gezielt bündelt. Ich werde das Modell beim Weltwirtschaftsforum im Davos vorstellen. Ich werde weiter Partnerschaften in Jordanien begleiten, etwa als Direktor eines Musikfestivals, damit es positive Nachrichten aus der Region gibt.

Das Gespräch führte Sylvia Einöder

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