Die Freiheit zum Monströsen

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Nachlese zum "Jahrhundertprozess": Über die Stilisierung von Josef F. zum "Antlitz Österreichs", die Viktimisierung der Täter und die unhintergehbare Dimension der individuellen Verantwortung.

Einmal noch der große Medienhype im Vorfeld, Stichwort "Jahrhundertprozess"; am zweiten Tag rangierte die Causa Josef F. dann schon unter ferner liefen - "… sehen Sie noch nach der Meldungsübersicht", wie das im ZIB 2-Jargon heißt. Wobei es so wenig Stoff gab, dass sich der Bericht darum drehte, dass es so wenig Stoff gab bzw. um die ausländischen Journalisten, die solches bekrittelten. Am Mittwoch Vormittag dann der Knalleffekt: Der Angeklagte bekennt sich auch in den am schwersten wiegenden Punkten "Mord" und "Sklaverei" schuldig. Wenn Sie diese Zeilen lesen, liegt das Urteil ziemlich sicher schon vor.

Was bleibt? Die Diskussionen um den Schutz der Opfer, um den rechten Umgang mit den Bildern, den Graubereich zwischen öffentlichem Interesse und medialer Sensationsgier, die auch angesichts der Monstrosität des Verbrechens eine vorher kaum gekannte Intensität erreichten. Ob eine Mediengesellschaft aus solchen Diskussionen nachhaltig lernt, darf bezweifelt werden. Auch der nächste Anlassfall wird einschlägige Grenzüberschreitungen evozieren. Sie als solche zu benennen, ist dennoch aus Gründen der Selbstachtung und der Medienhygiene unverzichtbar.

Das "schlechte Allgemeine"

Wie schon bei Bekanntwerden des Falles vor knapp einem Jahr wurde der Prozess von den ausländischen Medien erneut zum Anlass genommen, notorische Österreich-Klischees zu strapazieren. Nicht zuletzt mangels substanzieller Nachrichten (s. o.; aber was hatte man sich eigentlich erwartet?) wurde da wiederum die Person des Angeklagten zur Symbolfigur für ein ganzes Land stilisiert, das dünne Informationsrinnsal selbst noch einmal als Ausweis vermeintlich habituellen Verdrängens und Wegschauens gedeutet. Vom "Antlitz Österreichs, das sie lieber vergessen würden", schrieb etwa die Online-Ausgabe der britischen Times. Subtiler noch die Frankfurter Rundschau: "War F., unten' nicht genau der treu sorgende Familienvater und genau der Alleinherrscher, der er, oben' war?", hieß es dort, und weiter: "Der Prozess von Amstetten müsste, wenn er läuternd wirken wollte, den umgekehrten Weg gehen: Er müsste in der Abgeschiedenheit des Verbrechens das schlechte Allgemeine nachweisen."

Dass das Barbarische im Gewand des Biedersinns daherkommen kann, mit weißen Socken in Sandalen, Goldkettchen und Blümchentapete kompatibel ist, wird niemand ernsthaft bestreiten. Aber solchen Biedersinn gibt es ja nicht nur in seiner austriakischen Ausprägung - und zu Recht würden sich auch andere Länder oder Völker dagegen verwahren, ausgerechnet in einer Art Negativauslese ihr "Antlitz" erkennen zu sollen. Bedeutsamer aber scheint noch ein zweiter Gedanke: Richtig ist, dass wir, wenn wir mit einem solch unfassbaren Verbrechen wie jenem von Amstetten konfrontiert sind, immer auch in den je eigenen Abgrund blicken. Aber das ist noch einmal ganz etwas anderes, als im Subtext zu suggerieren, in jedem (typisch österreichischen?) "treu sorgenden Familienvater" stecke gewissermaßen schon der inzestuöse "Allein-" und Gewaltherrscher, unter jedem Einfamilienhaus sei solcherart das Verlies schon angelegt.

Verbrechen und Strafe

Ein Prozess hat eben nicht primär die Aufgabe, "das schlechte Allgemeine" nachzuweisen, sondern zunächst die individuelle Schuld des Angeklagten zu klären und allenfalls entsprechend zu sanktionieren. Josef F. ist (vorbehaltlich seines Schuldspruchs) nicht in erster Linie Opfer - weder seiner Mutter, die ihn, wie er sagte, nie zu sich genommen hat, noch eines Landes, das sich vorgeblich gerne im Verdrängen, Leugnen und Verstecken übt -, sondern Täter. Wer gewissermaßen das ganze Land zum Verlies erklärt, dumpf, eng, verwinkelt und stickig, muss sich den Vorwurf der präventiven Viktimisierung gefallen lassen. Er erklärt alle potenziellen und reellen Täter zu Opfern des Systems. Unterbelichtet bleibt so die Dimension der unhintergehbaren, individuellen Verantwortung und Freiheit. Sie ist immer auch die Freiheit zum Entsetzlichen.

* rudolf.mitloehner@furche.at

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