Die Furcht vor dem Schreiben

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"Über der Entscheidung, eine Strickjacke blau oder bläulich zu nennen, kann ich eine ganze Nacht zubringen", bekennt Marie-Luise Scherer in ihrer Dankesrede zum Italo-Svevo-Preis. Und das ist keine Koketterie, denn in der gleichen Rede heißt es auch: "Auf mein erwachsenes Leben zurückblickend, so war es geprägt durch die Furcht vor dem Schreiben, durch sein Hinauszögern und das daraus erwachsende Unglück der Arbeitsschulden." Auch in den anderen Preisreden (u. a. Heinrich-Mann-Preis, Kunstpreis des Saarlandes), die im Band "Unter jeder Lampe gab es Tanz" erschienen sind, kommen diese Ängste noch mehrfach zur Sprache. Kaum zu glauben bei einer so großartigen Schriftstellerin wie Marie-Luise Scherer, die über zwanzig Jahre bis 1998 literarische Reportagen für den Spiegel verfasste. Zu erklären ist es wohl nur damit, dass sie selbst die höchsten Ansprüche an ihr eigenes Schreiben stellt.

Ihren legendären Ruf als Meisterin dieses Genres im deutschsprachigen Raum erwarb sie mit einer sehr überschaubaren Anzahl von Texten, die alle präzise recherchiert und sprachlich brillant geschrieben sind. In ihrer berühmten Geschichte "Hundegrenze" erzählt sie am Beispiel von Hunden, die auf der östlichen Seite der deutsch-deutschen Grenze im Todesstreifen lebten und Wachdienste verrichteten, die Mentalitätsgeschichte eines Überwachungsstaates. Sie zeugt ebenso wie ihre Preisrede zum Ludwig-Börne-Preis, den sie für ihre Reportage erhielt, von ihrer Empathie, die sie gleichermaßen für Menschen und Tiere aufbringt. In ihrer Rede erzählt sie sehr lakonisch davon, wie sie bei einem Besuch in Havanna die Tatsache, dass es nur Brot und Kohl für Menschen und Tiere gab, durch Essensdiebstahl im Hotel zu lindern versuchte, aber auch davon, dass die Menschen trotz des Notstands zu leben wussten, denn: "Unter jeder Lampe gab es Tanz."

Sprachliche Formulierungskunst

Wie ihre Reportagen sind auch ihre Reden Prosatexte aus der subjektiven Perspektive einer wachen Erzählerin, die über ihre Herkunftsfamilie ebenso unsentimental Auskunft gibt wie über verschiedene Kollegen und ihre Schreibblockaden und dabei beiläufig ihre eigene Poetologie formuliert, nicht ohne Selbstironie. Sie zeichnen sich aus durch ungeheuer genaue Beobachtungen und große sprachliche Formulierungskunst.

Der Band "Unter jeder Lampe gab es Tanz" gibt Einblicke in die "Silbenarbeit", als die Marie-Luise Scherer ihr Schreiben selbst bezeichnet hat: "Jeder Satz müsse passen wie ein Handschuh."

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