Die Geburt des Jugendstils

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Das Jubiläum der Wiener Secession erinnert an eine große Epoche künstlerischer Beziehungen zwischen Brüssel, Flandern und Wien.

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Das Jubiläum der Wiener Secession erinnert an eine große Epoche künstlerischer Beziehungen zwischen Brüssel, Flandern und Wien.

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Heuer feiert die Wiener Secession ihr 100jähriges Bestehen. Die revolutionäre Jugendstilbewegung hatte ihre Väter in den avantgardistischen Kreisen der belgischen Symbolisten und Art-Nouveau-Künstler. Otto Wagner war auf der Weltausstellung in Brüssel 1897 von Entwürfen Paul Hankars so beeindruckt, daß er den bisherigen Neorenaissance-Stil aufgab und einen eigenen Stil entwickelte. Der große Architekt und Innenausstatter Hankar stammte aus Gent, einer flämischen Stadt mit großer historischer Vergangenheit und Verbindungen auch zu Österreich. Hier wurde Kaiser Karl V. vor fast 500 Jahren geboren - das heutige Belgien gehörte damals zum Habsburgerreich. Es ist lohnend, sich in Belgien auf die Spuren von großen Jugendstilarchitekten zu begeben. Bemerkenswerte Beispiele der Art-Nouveau-Bauten findet man vor allem in Brüssel, Antwerpen und Gent.

Der neue Stil wurde 1893 in Brüssel geboren. Sein Vater heißt Victor Horta und sein Erstling Hotel Tassel. In einem modernen, um die Jahrhundertwende gebauten Stadtviertel, Quartier Louise, bauten die Jugendstilarchitekten der "ersten Stunde", Victor Horta und Paul Hankar, neue Bürgerhäuser, die eine Revolution in der Architektur bedeuteten - eine totale Abkehr vom eklektizistischen Historismus zugunsten einer individuellen, harmonischen und funktionellen Architektur, die das Leben "verschönern" und den Charakter des Besitzers widerspiegeln soll. Einige Beispiele davon haben sich bis heute im Viertel erhalten, wie das schon erwähnte Hotel Tassel oder Hotel Solvay, viele sind leider dem Modernisierungseifer der sechziger Jahre zum Opfer gefallen.

Im Hotel Tassel verwendete Horta zum ersten Mal für ein privates Haus eine Eisen-Stahl- und Glaskonstruktion. Die Fassade weist noch eine puristische Strenge auf; mit ihrem großen Fenster im zentralen Teil spiegelt sie aber die innere Aufteilung des Gebäudes wider. Die unverkleidete Metallstruktur wird nach außen und nach innen zur Schau gestellt. Die Eisenvergitterungen als Schmuckelemente bilden eine harmonische Einheit mit der Konstruktion des Hauses.

Der neue Stil kommt noch besser im Hotel Solvay zur Geltung, einem Meisterwerk der Baukunst. Die aus Eisen, Sandstein und blauem Hartstein gebaute Residenz des ehemaligen Industriemagnaten Ernst Solvay in der Avenue Louise zeichnet sich durch eine geschwungene, asymmetrische Fassade mit reicher Dekoration der Balkone aus - typische Merkmale des Horta-Stils. Das Streben nach einem harmonischen Gesamtbild erfüllen vorbildlich geschwungene Glaswände und die Eisen-Stahlkonstruktion als bestimmende Elemente im Inneren des Hauses.

Horta und die anderen großen Architekten des ausgehenden 19. Jahrhunderts haben nicht nur ihre Häuser bis zum kleinsten Türgriff oder Lichtschalter entworfen, sie haben auch die Innenausstattung und das Mobiliar gestaltet. Das ehemalige Wohnhaus und Atelier des Architekten, heute das reizvolle Horta-Museum in der Rue Americaine, liefert das beste Beispiel eines Gesamtkunstwerkes der Jugendstilepoche. Als Doppelhaus für Wohnen und Arbeiten auf zwei Grundstücken gebaut, hat es zwei unterschiedliche Fassaden, die mit den Regeln der Symmetrie total brechen. Das Treppenhaus bildet eine Achse, die alle Räume aneinanderfügt. Es gehört zu den schönsten Schöpfungen Hortas - mit seiner leichten Metallkonstruktion von geschwungenen und gekrümmten Linien, der goldgelben Wanddekoration und der gewölbten Glasdecke. Die Wände des Eßzimmers sind mit weiß emaillierten Ziegeln verkleidet. "Die leicht glänzende Oberfläche dieser Verkleidung speichert alle Harmonien der Natur, die Farben des Himmels, die Schattierungen des Laubes und des Sonnenuntergangs", schrieb Horta.

Auch die schwungvoll eleganten Ornamentlinien deuten die Natur an. Sie umspinnen das ganze Haus, so daß es zu einer von der Schönheit der Linie beherrschten Einheit verschmilzt. "Une ligne est une force" - eine Linie bedeutet Kraft. Der berühmte Satz von Henry van de Velde deutet die Dynamik und Vitalität der neuen Epoche an, in der die Rolle des Künstlers im Alltag besonders unterstrichen wurde. Paul Hankar, Henry van de Velde, Victor Horta - sie alle waren sozial engagiert, wollten alle Menschen mit Schönheit und einem neuen Lebensgefühl beschenken. Horta baute das "Volkshaus", "ein Haus, dessen Luxus in Licht und Luft bestand, die den Arbeitern so lange vorenthalten waren". Leider, der soziale Gedanke wurde schnell aufgegeben. Der vom Ornament abhängige Stil war in seiner handwerklichen Ausfertigung zu teuer für die Masse.

Anders als Horta baute Paul Hankar seine Häuser. Beim Bau des eigenen Hauses in der Rue Defacqz inspirierte ihn der Orient. Die aus rotem Backstein gebaute Fassade schmückt eine reiche Polychromie mit originellen Sgraffiti vom Maler Adolphe Crespin.

Die Häuser für die Künstler Ciamberlani und Janssens, in derselben Straße gebaut, zählen zu Hankars ausdrucksvollsten Schöpfungen. Seine etwas strengere Formensprache und orientalisierende Elemente beeinflußten viele Architekten sowohl in Belgien wie auch im Ausland. In der ersten Phase beschränkte sich der Jugendstil auf Brüssel. Victor Horta begeisterte den Pariser Architekten Hektor Guimard. Die stark vereinfachten und konstruktiven Formen, vor allem Möbel und kunstgewerbliche Entwürfe Henry van de Veldes fanden in Deutschland Anklang.

Nach 1905 wird der Einfluß der geometrischen Formen auf die Brüsseler Künstler zunehmend spürbar. Das 1905 gebaute Haus des Architekten und Malers Paul Couchie zeichnet sich durch eine originelle geometrisch aufgebaute Fassade aus, mit einem großen Giebelsgraffito, dessen acht Frauenfiguren verschiedene Künste symbolisieren. Das Haus gehört zu den schönsten Beispielen des belgischen Jugendstils, der sich an der Wiener Schule orientiert.

Eine starke Wiener Note gibt der Brüsseler Architektur das berühmte Palais Stoclet. Der kühle, stark geometrisierende Josef-Hoffmann-Bau in der Avenue Tervuren setzt einen hervorragenden Schlußakzent einer Stilepoche in Brüssel. Dieses wahre Meisterwerk des Wiener Jugendstils hat eine ganze Generation belgischer Architekten beeinflußt und war zukunftsweisend für die weitere Entwicklung der modernen Architektur.

Das auffallendste Element des Hauses ist der Treppenturm, gekrönt von vier monumentalen Figuren als Wächter dieses kostbaren Werkes und abgedeckt vom Blumenkranz aus Bronze als Anspielung auf die Wiener Secession. An der Eingangsgalerie steht die Statue von Athena als Symbol der Künste, ein Entwurf von Michael Pokorny. Die Kunst dominiert den ganzen Bau. Beim Ausgang des Treppenhauses befindet sich ein Relief von Emilie Schleiss-Simandl. Einen kleinen Brunnen in der Empfangshalle schmückt eine Georg-Minne-Skulptur. Eine Reliefdekoration stammt von Carl Otto Czeschka. Im Speisezimmer befinden sich Mosaiken von Gustav Klimt, im Kinderzimmer ein Tierfresko von Ludwig Jungnickel. Alles bildet einen Organismus von absoluter Harmonie, ein wahres Gesamtkunstwerk.

In Antwerpen ließen sich die Architekten vom Brüsseler Jugendstil inspirieren. Das berühmte Viertel Cogels-Osylei bildet eines der am besten erhaltenen architektonischen Ensembles der Jahrhundertwende. Der Reichtum und die Phantasie der Formen von palastähnlichen Bürgerhäusern entstand als Resultat einer Wechselwirkung zwischen dem Eklektizismus und dem Jugendstil. Die fesselnde Fassadenpolichromie, farbige Mosaiken erhöhen noch den "phantastischen" Aspekt dieser Architektur. Jede Straße besitzt hier einen eigenen Charakter - Reichtum und Wohlstand der "Belle Epoque" wurden zur Schau gestellt.

In Gent, in der Gegend um den Stadtpark, in den reizvollen Parklaan oder Kunstlaan findet man auch geschlossene Ensembles der Jugendstilhäuser. Zwei Architekten, Achiel van Hoecke-Dessel und Geo Henderick, entwickelten hier interessante Beispiele der neuen Architektur. Van Hoecke-Dessel sucht nach der Originalität und Asymmetrie der Fassadenkomposition. Geo Henderick in den schlichten, geometrischen Fassaden lehnt sich an die Wiener Schule an. Im Genter Museum für Kunstgewerbe und Gestaltung sind ganze Möbelensembles von bekannten Künstler-Architekten zur Schau gestellt.

In Gent steht auch der von Henry van de Velde gebaute Bücherturm, eine schlichte, funktionale moderne Architektur, die schon der späteren Epoche des Bauhauses, angehört. Jenes Bauhauses, das auf den Grundsätzen der Kunstgewerbe-Schule in Weimar, die van de Velde bis 1915 leitete, gegründet wurde. Und so schließt sich in Gent der Kreis ...

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