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Die Mächtigen der Welt herrschen nicht nur über Menschen, sondern auch über die Art, die Zeit einzuteilen und zu deuten. Konsequenz: Geschichte wird gefälscht oder gar erfunden.

Raum und Zeit sind für uns unmittelbare Erfahrung. Dass sie Albert Einstein zu einem vierdimensionalem Kontinuum verbunden hat, ist bereits Theorie und schlecht erfahrbar, besonders wenn man den Formeln entnehmen muss, dass auf verschieden schnell bewegten Körpern die Zeit divergiert, also Parallelzeiten entstehen.

Der Mensch kann sich mit Vergangenheit und Zukunft auseinandersetzen – die Gegenwart wird ihm in dem Moment zur Vergangenheit, in dem er sie betrachten will. Die Blicke voraus wie zurück haben den Vorteil, dass beide von uns eingefärbt werden können: am liebsten positiv imprägniert, doch wenn es sein muss, auch negativ, so Heil aus einer Niederlage gezogen werden soll. Dichter und Denker haben sich diesen Umstand zunutze gemacht, indem sie Entwürfe vorgelegt haben, die außerhalb des uns bekannten Raumes oder der uns zugänglichen Zeit angesiedelt sind. Wir kennen seit Thomas Morus und seinem gleichnamigen Roman die Begriffe Utopia („nirgends“) und – weniger geläufig – Uchronia („niemals“).

Die kontrafaktische Geschichte

In jüngerer Zeit hat sich eine Geistesschule herausgebildet, die Uchronie als alternative, virtuelle, kontrafaktische Geschichte versteht, bei der vertraute Zeit mit anderer Handlung hinterlegt wird („Was wäre geschehen, wenn die Nase der Kleopatra nicht so schön gewesen wäre?“). Für derartige Handlungen, die niemals stattgefunden haben, gibt es keinen Platz auf dem Zeitstrahl. Es gibt aber auch die Denkmöglichkeit, dass ein Teil des Zeitstrahls niemals existent war, also auch die auf diesem Intervall verzeichneten Ereignisse nie geschehen sind. Der Verfasser hat eine derartige imaginäre Zeit nachzuweisen versucht (Stichwort: Das erfundene Mittelalter). Dabei wird nicht nur die geläufige Zeit verlassen, sondern ein Stück des Zeitstrahls als virtuell zur Diskussion gestellt. Zumindest das Denkmodell ist zulässig; über die Zulässigkeit der vorgeschlagenen Kürzung wird noch lange gestritten werden. (Kennt die Historie eine oder sogar mehrere Phantomzeiten, sind „dark ages“ nur dunkel oder Zeichen für nie verstrichene Zeit?)

Gelehrte Geschichte bestand bis weit ins 20. Jahrhundert aus Feldzügen, also aus Schlachtplänen, Marschrouten und Jahreszahlen. Sie standen zum höheren Ruhme dominanter Menschen, die dem Leben der anderen ihren Stempel dadurch aufdrückten, dass sie Raum und Macht gewinnen wollten – wir brauchen nur an Kambyses, Alexander den Großen, Napoleon oder an das britische Empire (u. a. Queen Victoria) zu denken.

Wie aber stand es mit der Zeit? Die Zukunft blieb den Utopisten vorbehalten; um die Vergangenheit kümmerten sich die Potentaten auf spezielle Weise. Da gab es die weit verbreiteten Versuche, durch entsprechende Geschichtsschreibung die Vergangenheit zu erhöhen, gesundzubeten oder zur zwingenden Voraussetzung für die eigene Gegenwart umzugestalten. Das hatten Historiker und Hofgeschichtsschreiber zu leisten, aber auch Klosterskriptorien, darunter sogenannte „kreative Fälschungsateliers“. Solche gab es bereits im hohen Mittelalter; übertroffen wurden sie erst im zwanzigsten Jahrhundert. Prokop aus dem Caesarea des 6. Jahrhunderts steht als Musterbeispiel für einen Hofangestellten, der offizielle Geschichtsschreibung verfasst, aber von seinem kaiserlichen Auftraggeber Justinian I. so angewidert ist, dass er auch noch eine Geheimgeschichte verfasst, die den Kaiser und seine Gemahlin in einem ganz anderen Licht erscheinen lässt.

Potentaten hatten gelegentlich auch das Bedürfnis, der Zeit zu befehlen, also der ablaufenden Zeit ihren Stempel aufzudrücken. Das klassische Beispiel stammt vom französischen Konvent, der nach der Revolution beschloss, es müsse auch bei der Zeitrechnung eine Revolution geben: So wird der Bezug zur Geburt Christi durch den Tag 1 des Revolutionskalenders ersetzt = die Tagundnachtgleiche des einstigen Jahres 1792, als die Republik ausgerufen worden ist. Das Kalendergerüst wird möglichst dezimal gegliedert, also 12 Monate zu 30 Tagen (plus 5 Tage), anstelle der Siebentagewoche eine Dekade, jeder Tag zu zehn Stunden à 100 Minuten à 100 Sekunden.

Zusammenbruch der Zeitrechnung

Selten ging man rationaler und gründlicher vor – und selten verflüchtigte sich eine neue Ära schneller: Kaum dass überhaupt entsprechende Uhren gebaut wurden, brachen erste Teile der neuen Zeit nach 2, das ganze rationale Kalenderkonstrukt nach keinen 13 Jahren zusammen.

Es gab aber auch Versuche, die den Bedürfnissen der Betroffenen deutlich näherkamen. Der folgenreichste wurde von Julius Cäsar eingeleitet und von Gaius Oktavianus fortgesetzt, der sich selbst Imperator Cäsar nannte und vom Senat den Ehrentitel „Augustus“ (Erhabener) erhielt. Der erste Cäsar ersetzte den kaum praktikablen Mondkalender durch ein reines Sonnenjahr mit Schalttag, also von 365 Tagen, dessen Monate nicht mehr dem Mondzyklus folgten, sondern 30 oder 31 Tage umfassten, den Februar mit seinem Schalttag ausgenommen. Nach ihm sorgte sich sein Großneffe Augustus gleich doppelt um den Beginn der Kalenderzählung. Einmal legte sein Hofbibliothekar Marcus T. Varro die Gründung Roms umgerechnet auf den 21. 4. 753 v. Chr. und verlieh der deutlich jüngeren Stadt mythisch-archaischen Charakter. Zum anderen wurde die Eroberung Alexandrias durch Augustus am 1. August 30 v. Chr. zum Startpunkt der Alexandrinischen Ära erklärt. Da alexandrinische Gelehrte den julianischen Kalender (ab 45 v. Chr.) als alexandrinischen und arabische Spezialisten die Seleukidenära (ab 323 v. Chr.) als Alexanderära bezeichneten, gab es allerdings in späteren Zeiten Raum für beliebige Verwechslungen.

Augustus ging noch weiter. Auf dem römischen Marsfeld bereitete er seine eigene Apotheose vor: mit Kremationsplatz, Mausoleum, Friedensaltar und Sonnenuhr. Über die waagrechte Riesenfläche der Sonnenuhr lief der Schatten in täglich sich ändernden Hyperbelbahnen; nur an den beiden Tagundnachtgleichen lief der Schatten auf gerader Linie – direkt zum Eingang der Ara pacis. Der Kaiser feierte seinen Geburtstag am 23. September; wie kürzlich nachgewiesen, war das damals wie heute die Herbsttagundnachtgleiche. Nachdem er außerdem den nach Cäsars Tod fehlerhaft durchgeführten Schaltzyklus korrigieren ließ, bestimmte er in persona nicht nur den Gang der Jahreszählung und die Eckpunkte des Sonnenjahrs, sondern auch das Startjahr der Zählung. Hinzu kam, dass Titus Livius unter Augustus die Zeit „ab urbe condita“ mit einer Geschichte gefüllt hat, die über weite Strecken nichts anderes als erfunden sein kann – zum größeren Ruhme Roms.

Der Einfluss der Herrscher

Mehr Einfluss kann ein Herrscher auf Zeit, Zeitrechnung und Geschichte kaum ausüben. Gleichwohl war für uns die Zeitrechnung nach Christi Geburt folgenreicher, zumal sie mit einem Kirchen- und Festkalender der katholischen Kirche einhergeht und der Tag des Herrn die Woche bestimmt.

Alle weiteren Versuche, die Zeit festzulegen, sind marginal geblieben. Heute ist man mit dem gregorianischen Kalender zufrieden und nur noch bestrebt, die Dauer von Sekunde und Jahr möglichst präzise zu fixieren, mit der Folge, dass der nun „holprige“ Lauf der Erde sekundenweise nachgebessert werden muss.

Physiker sind stolz darauf, dass selbst die Cäsium-Atomuhr, die doch in zehn Millionen Jahren nur um eine Sekunde abweicht, bald von optischen Uhren abgelöst wird, die noch um den Faktor 1000 präziser gehen. Doch diese Genauigkeit verändert nichts an unserem Zeitgefühl, allenfalls am Inhalt unseres Geldbeutels: Je präziser die Zeitsignale im heutigen GPS- und bald im Galileo-Netz sind, desto präziser die Distanzangaben, so dass auch kontrolliert werden kann, wie viele Zentimeter unser Auto in die Halteverbotszone hineinragt ... So gelingt den Technikern eine modern-banale Bestätigung der Belehrung von Gurnemanz an Parsifal: Zum Raum wird hier die Zeit!

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