Die Geometrie des Fleisches

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Soviel Kunstwillen ward da lange nicht gesehen! Das Wiener Volkstheater zeigt eine äußerst bemerkenswerte Kurzfassung von Goethes "Urfaust“.

Bekanntlich hat Goethe an seinem "Faust“-Komplex fast ein Leben lang gearbeitet. Die ersten planmäßigen Niederschriften gehen auf seine Leipziger Zeit (1765-68) zurück, und die vom Weimarer Hoffräulein Luise von Göchhausen angefertigte Abschrift, die heute nicht ganz unumstritten als "Urfaust“ bezeichnet wird, und der, wie ein Zeitgenosse bekräftigte, "interessante Wollustscenen“ fehlen, stammt vermutlich aus den frühen 1770er-Jahren. Da schrieb Goethe gerade an seinem Sturm-und-Drang-Roman "Die Leiden des jungen Werthers“. Das Stürmische und Drängerische ist dem Stück, das Bruchstücke enthält, die in den späteren, klassischen "Faust“ nicht eingegangen sind, deutlich anzumerken. Seine genialische Regellosigkeit ist mehr als belanglose Äußerlichkeit. Obwohl Goethe selbst es später als ein "höchst konfuses Manuskript“ bezeichnet hat, macht es nicht den Eindruck der Vorläufigkeit und Unfertigkeit, sondern lässt einen eigenen, der Zeit geschuldeten Stilwillen erkennen.

Triebhafter Verführer

Regisseur Enrico Lübbe hat nun diese frühe Fassung auf die Bühne des Wiener Volkstheaters gewuchtet. Obwohl das nicht ganz der richtige Ausdruck ist, denn seine Inszenierung, in der er auf ein glänzend disponiertes Ensemble zurückgreifen kann, wirkt eher wie eine hingeworfene Skizze, federleicht im Stil, kühn im Zugriff und gewaltig in den Bildern. Nicht einmal eine Stunde braucht er, um die Margareten-Tragödie - denn das ist dieser "Urfaust“ mehr denn eine Gelehrtentragödie - zu erzählen, in der ihn nicht metaphysische, sondern innerweltlich-menschliche Antagonismen interessieren.

Er verkürzt die Geschichte ganz auf die des gelehrten Herrn Faust als eines trieb- und schuldhaften Verführers. Im Stile von Vanessa Beecroft lässt Lübbe ganz am Anfang ein Dutzend nackter Frauen auf hochhackigen Schuhen auftreten. Vielleicht Sinnbild dafür, dass Frauen für Faust nur Lustobjekte sind. Er wiederholt die Szene, in der Faust den Objekten seiner Begierde mit dem berühmten Satz "Mein schönes Fräulein, darf ich wagen …“ seine hintergründigen Avancen macht, wenig später mit den angezogenen Frauen. Nur bei Gretchen endet der Antrag nicht mit einer Watsche. Im gnadenlos grellen Scheinwerferlicht steht sie da, von Nanette Waidmann nicht nur als naive, unbedingt Liebende gespielt, sondern vielmehr als eine ganz leidenschaftlich Begehrende.

Mephisto als Fausts Alter Ego

Denis Petkovi´c spielt den Faust als hochproblematischen Charakter - äußerlich als Nerd, mit Wollstrickjacke und schwarzer Krankenkassenbrille, in dessen Brust sich aber ganz andere Lüste verbergen. Mit kompromisslosen Textverdichtungen, wo jedes Wort Gewicht hat, mit bestechend einfachen Gesten und klaren Szenenanordnungen kehrt Lübbe das Innere der Figur nach außen. So ist auch Mephisto, der bei Goethe noch ganz unvermittelt ins Spiel kommt, nur die dunkle Seite des Menschen Faust. Günter Franzmeier spielt diesen anderen als bösen, schmierigen Galan. Am Ende, als Faust sich (anders als in der Vorlage) selbst richtet, stirbt er mit ihm. So ist Faust in Lübbes Interpretation nicht weniger als ein gespaltenes, in seinen Trieben gefangenes Ich einer glaubenslosen, tief skeptischen Zeit, der auch die Unterscheidung von Gut und Böse letztlich abhanden gekommen ist. Das ist ein naheliegender Befund. Man hat ihn aber so kunstvoll verdichtet und sinnfällig auf die Bühne übersetzt im Volkstheater schon lange nicht mehr gesehen.

Weitere Termine

31. Okt., 1., 6., 13., 17., 18., 22., 27. Nov.

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