DIE GESCHICHTE UNSERES LEBENS

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Was ist Zeit? Die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr verbrachte ich dieses Jahr unter anderem mit einem Buch, das mich auch mit dieser Frage konfrontierte, auf die ich noch nie eine befriedigende Antwort geben konnte. "Es gibt eine objektive Zeit, aber auch eine subjektive Zeit, und die trägt man innen am Handgelenk, direkt am Puls. Und diese persönliche Zeit ist die wahre Zeit, und ihr Maß ist das persönliche Verhältnis zur Erinnerung."

Ein Testament stört die Erinnerungen des Ich-Erzählers in Julian Barnes' Roman "Vom Ende einer Geschichte". Tony Webster bekommt ein Tagebuch seines Jugendfreundes Adrian vermacht. Dieser hat sich vor Jahrzehnten das Leben genommen, Tony glaubte zu wissen warum. Das Tagebuch (die erwartete erklärende Selbstaussage) wird Tony nie erhalten, doch mit dem Testament beginnt das Infragestellen seiner Erinnerungen.

Die Version des Geschichtsschreibers

Für die fein gestrickte, unaufgeregt erzählte und umso wirksamere Geschichte erhielt Julian Barnes 2011 den Man Booker Prize. Das Leben des Ich-Erzählers ist kein spektakuläres, doch was Jugendfreund Adrian vor Jahrzehnten seinem Geschichtsprofessor sagte: "Das ist doch ein Kernproblem der Geschichtsschreibung, nicht wahr, Sir? Die Frage der subjektiven gegenüber der objektiven Interpretation, die Notwendigkeit, die Geschichte des Geschichtsschreibers zu kennen, damit wir verstehen, warum uns gerade diese Version unterbreitet wird", betrifft auch die Geschichtsschreibung des Individuums. Den Erinnerungen des eigenen Lebens nachzugehen, kann ziemlich schmerzen, stößt man doch auf Schuld und Schäden - und auf die Frage, wo Verantwortung beginnt (und man sie nicht wahrgenommen hat).

Zunehmend wird Tonys Selbstbild fragwürdiger, schleicht sich in die Selbstbefragung die Ahnung ein, er könnte doch ein anderer gewesen sein, als er sich seit Jahrzehnten selbst erzählt. Wenn Textzeugen auftauchen wie etwa jener Brief, den er einst geschrieben, dessen Inhalt und Ton er aber - aus gutem Grund - vergessen hat, kommt mit ihnen auch das Entsetzen über die Erkenntnis, wer er war.

Julian Barnes erzählt von der Konstruktion unserer Erinnerung. "Wie oft erzählen wir unsere eigene Lebensgeschichte? Wie oft rücken wir sie zurecht, schmücken sie aus, nehmen verstohlene Schnitte vor? Und je länger das Leben andauert, desto weniger Menschen gibt es, die unsere Darstellung infrage stellen, uns daran erinnern können, dass unser Leben nicht unser Leben ist, sondern nur die Geschichte, die wir über unser Leben erzählt haben. Anderen, aber - vor allem - uns selbst erzählt haben."

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