Die große Gretchenfrage im Nahen Osten

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Welche Rolle spielt die Religion in den bewaffneten Konflikten im Irak, in Syrien und Jemen? Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass es sich um konfessionalisierte Konflikte handelt, in denen die religiöse Zugehörigkeit zur Mobilisierung missbraucht wird.

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Welche Rolle spielt die Religion in den bewaffneten Konflikten im Irak, in Syrien und Jemen? Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass es sich um konfessionalisierte Konflikte handelt, in denen die religiöse Zugehörigkeit zur Mobilisierung missbraucht wird.

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In der Wahrnehmung der bewaffneten Konflikte in Syrien, Irak, Jemen und anderen Konfliktherden im Nahen Osten spielt Religion eine wachsende Rolle -sowohl in der Region selbst als auch in der Rezeption in Europa. Unzählige Publikationen beschäftigen sich mit dem Islam als vermeintlicher Konfliktursache und versuchen, das Verhalten zeitgenössischer politischer und militärischer Akteure aus einem 1400 Jahre alten Text, dem Koran, zu erklären.

Dabei sind Muslime nicht nur in ihrer jeweiligen Interpretation des Islam unterschiedlich, sondern wie alle Menschen von vielfältigen und flexiblen Identitäten, Rollen, Prägungen und Interessen geprägt. Ein Muslim bzw. eine Muslimin ist auch eine Person mit einem Geschlecht und einer sexuellen Orientierung, einem bestimmten Bildungshintergrund, ist einem sozialen Rang oder einer Klasse zugehörig. Muslime haben vielfältige kulturelle Bezugsräume, einen bestimmten Beruf, sind im ländlichen oder städtischen Raum aufgewachsen. Und sie sympathisieren mit unterschiedlichen Ideologien und politischen Strömungen. Muslime sind damit genauso vielfältig und vielschichtig wie Christen, Buddhisten oder Atheisten.

Koloniale und orientalistische Bilder

Trotzdem spielen Religion und das, was man im Christentum als Konfession bezeichnen würde, in vielen der derzeitigen Konflikte im Nahen Osten eine gewisse Rolle. Und zwar nicht nur in der westlichen, von kolonialen und orientalistischen Bildern mitgeprägten Wahrnehmung in Europa, sondern auch zur Mobilisierung in der Region. Welche Rolle Religion dabei konkret spielt, bedarf zunächst eines präziseren Blicks auf Funktionen der Religion: Diese hat ebenso die Dimension der individuellen Spiritualität wie die Dimension religiöser Gemeinschaft und gemeinsamer Riten, die vor allem als Übergangsriten an den Wendepunkten des Lebens eine Bedeutung haben. Mehr oder weniger hierarchisierte Religionen wie etwa die hochgradig zentralisierte römisch-katholische Kirche haben zudem eine institutionelle Dimension, die zugleich - wie jede Institution -eine machtpolitische Komponente enthält. Religion hat oft auch eine Dimension als Identitätsmarker zur Abgrenzung zwischen Gläubigen und Ungläubigen. Und genau diese Dimension von Religion macht ihre machtpolitische Verwendung interessant.

Weder die bewaffneten Konflikte in Syrien und im Irak, noch der Krieg im Jemen sind im Kern konfessionelle oder religiöse Konflikte. In allen drei Konflikten spielen ökologische, ökonomische und politische Ursachen eine wichtige Rolle, und in allen drei Konflikten gibt es durchaus komplexe Bündniskonstellationen, die keinesfalls entlang eindeutiger konfessioneller Linien verlaufen. So kämpften im Jemen jahrelang die zaiditisch-schiitischen Houthis gegen eine vom zaiditischen Präsidenten Ali Abdullah Salih geführte Regierung. Dieser setzte dann 2012 seinen ehemaligen Vizepräsidenten, den Sunniten Abed Rabbo Mansur Hadi, als seinen Nachfolger ein, überwarf sich schließlich mit diesem und verbündete sich mit seinen ehemaligen Feinden, den Houthis, die ihn wiederum nach einem Konflikt im Dezember 2017 ermordeten. Mittlerweile gibt es im Jemen vier Kriegsparteien, von denen drei von Sunniten geführt werden: die prosaudische Regierung Hadi, die jihadistische Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel und die südjemenitischen Separatisten.

Mangel an Trinkwasser

Auch in Syrien sind sowohl das Bündnis der Regierung als auch die von den kurdischen Volksverteidigungskräften dominierten Syrischen Demokratischen Kräfte von Milizen mit unterschiedlichem konfessionellem -im Fall der Syrischen Demokratischen Kräfte auch multiethnischen - Hintergrund geprägt. Lediglich die protürkischen Milizen sind mittlerweile weitgehend sunnitisch dominiert, der so genannte "Islamische Staat"(IS) ohnehin.

Im Irak gibt es keineswegs nur schiitische Volksmobilisierungs-Einheiten, die den IS bekämpft haben, sondern auch christliche und jesidische Milizen, die mit den schiitischen Milizen kooperiert haben. Seit dem Sommer hat sich hingegen im Südirak, insbesondere in Basra, ein sozialer Konflikt zwischen Demonstranten und proiranischen schiitischen Milizen entwickelt, der zu einer Reihe toter Demonstranten, einem niedergebrannten iranischen Konsulat und einem Angriff auf eine proiranische Miliz geführt hat. Alle beteiligten Akteure in diesem sozialen Konflikt, der von der schlechten Stromversorgung und fehlendem Trinkwasser ausgelöst wurde, sind Schiiten.

Von konfessionellen oder religiösen Konflikten kann somit kaum gesprochen werden. Was alle diese Konflikte jedoch gemeinsam haben, ist, dass es sich um transnationale Konflikte handelt, in denen auch die Regional-und Hegemonialmächte mitmischen, darunter maßgeblich Saudi-Arabien und der Iran. Diese unterstützen in allen drei Staaten jeweils unterschiedliche Konfliktparteien und setzen dabei auch auf die konfessionelle Karte. Insofern kann zwar in keiner dieser Konstellationen von einem konfessionellen Konflikt gesprochen werden, sehr wohl aber von konfessionalisierten Konflikten -also von Konfrontationen, in denen konfessionelle Zugehörigkeit zur Mobilisierung und Abgrenzung genutzt wird.

Der Gebrauch bzw. Missbrauch der Religion als Identitätsmarker und Mobilisierungsinstrument erfolgt heute allerdings nicht nur im Nahen Osten. Ein kreuzschwingender Politiker, mittlerweile immerhin Vizekanzler dieser Republik, der zwar nichts mit dem Christentum am Hut hat, aber glaubt, damit die Verteidigung eines "christlichen Abendlandes" gegen die Muslime symbolisieren zu müssen, stellt letztlich ein ähnliches Phänomen dar wie der Versuch, soziale und Ressourcen-Konflikte im Nahen Osten konfessionell aufzuladen.

| Der Autor ist Politikwissenschafter an der Univ. Wien sowie an den Fachhochschulen Vorarlberg und OÖ |

Folgen des Krieges Autor Thomas Schmidinger betreibt regelmäßig Feldforschungen im Irak und in Syrien (links: zerstörte christliche Kirche in Qaraqosh, Irak; rechts: Shariya-Flüchtlingscamp in Dohuk, Irak).

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