Die hohe Kunst des verstehens

Werbung
Werbung
Werbung

Wozu braucht man heute noch Philosophie oder Philologie? Der Philosoph Vittorio Hösle über Kunstgenuss, überholten Eurozentrismus und die Unterfinanzierung europäischer Universitäten.

Vittorio Hösle ist eine schillernde Gestalt der Geisteswissenschaften: Der Sohn eines Deutschen und einer Italienerin erhielt bereits mit 21 Jahren einen Doktortitel, und wurde mit 25 Jahren zum Professor ernannt. Als "Boris Becker der Philosophie“ bezeichneten ihn daher manche Medien in den 1980er-Jahren. Seit 1999 lehrt er an der katholischen Elite-Universität Notre Dame im US-Bundesstaat Indiana; letztes Jahr wurde er von Papst Franziskus in die Päpstliche Akademie der Sozialwissenschaften berufen. Die FURCHE traf den polyglotten Gelehrten anlässlich seines Eröffnungsvortrags bei den "Maimonides Lectures“ im Festsaal der Österreichischen Akademie der Wissenschaften zum Gespräch.

Die Furche: Worin sehen Sie eigentlich die großen Errungenschaften der Geisteswissenschaften?

Vittorio Hösle: Dass man imstande ist, sich mit einer Außenperspektive der eigenen Kultur anzunähern. Das ist nur möglich, wenn man sich durch Reflexion aus der eigenen kulturellen Verhaftung zurückzieht. Dieser Prozess wurde durch die universalistische Wendung der Aufklärung motiviert, wonach alle Kulturen prinzipiell gleich behandelt werden müssen. Damit hat man erreicht, dass relativ vorurteilsfrei die ganze Fülle der kulturellen Produkte der Menschheit in den Blick geraten ist. Beispielsweise die Statue einer indischen Gottheit in ihrem eigenen ästhetischen Wirken wahrzunehmen - dazu gab es vor der Aufklärung noch nicht die kategorialen Fähigkeiten. Erst im 19. Jahrhundert ist es möglich geworden, das historisch und kulturell "Andere“ ästhetisch zu genießen. Was unsere heutige Kultur von allen früheren unterscheidet, ist etwa der aktuelle Musikbetrieb: Noch im 18. Jahrhundert spielte man nur zeitgenössische Musik; heute hingegen hört der Großteil der Menschen, die in Wien Konzerte besuchen, mehr als 200 Jahre alte Musik - weil wir die Fähigkeit erlangt haben, uns an Musik vergangener Epochen zu erfreuen.

Die Furche: Dennoch ist heute auch von einer Krise der Geisteswissenschaften die Rede - wie ist das zu verstehen?

Hösle: Wir sind zwar heute in der Lage, alle möglichen kulturellen Produkte zu betrachten - aber die Frage, was wirklich gilt, können wir nicht mehr beantworten. Da haben die Geisteswissenschaften zur moralischen Lähmung beigetragen, in der sich vor allem die europäischen Kulturen heute befinden. Das heißt, wir können uns überall hin begeben, aber wir sind nirgends mehr zuhause. Und wir können heute nicht mehr die Frage beantworten, was die richtigen Werte sind. Auch hat sich in den letzten 30 Jahren ein Zweifel hinsichtlich der Fähigkeit zur objektiven Interpretation breitgemacht. Damit besteht die Gefahr, dass sich die Geisteswissenschaften das wissenschaftliche Wasser selbst abgraben. Denn Wissenschaft sollte zwischen wahr und falsch unterscheiden können. Zudem hat die immer stärkere Spezialisierung als grundsätzliches Problem unserer Zeit ebenfalls zur besagten Krise der Geisteswissenschaften beigetragen.

Die Furche: Welche Auswege könnte es aus diesem Dilemma geben?

Hösle: Eine grundlegende Frage von Geisteswissenschaftern sollte darauf abzielen, an Werte-Wissen heranzukommen. Das ist mit den traditionellen Methoden allein nicht zu leisten, denn die Geisteswissenschaften lehren uns lediglich, Werte aus der Außenperspektive zu verstehen. Somit sollte verstärkt die Ethik berücksichtig werden, die die Frage nach vernünftigen Werten zu beantworten sucht. Und neben dem unvermeidlichen Spezialisierungsprozess brauchen wir Gelehrte, die auch fächerübergreifend ausgebildet sind.

Die Furche: Der Begriff der Interdisziplinarität wird zwar heute gerne strapaziert, ist aber institutionell noch kaum verankert ...

Hösle: Ja, die ganze Rhetorik zum grenzüberschreitenden Denken hat noch keine lebendige Basis. Für die eigene Wissenschaftskarriere ist es immer noch besser, sich auf ein relativ enges Gebiet zu spezialisieren, weil die meisten Professuren so konzipiert sind. Nun gibt es gute Gründe für diese Spezialisierung: die stetige Zunahme des Wissens und die Tatsache, dass universitäre Qualitätskontrolle nur stattfinden kann, wenn es hochgradige Spezialisten gibt. Dagegen habe ich nichts einzuwenden. Aber es sollte eben auch Professuren geben, für die man sich nur dadurch qualifiziert, indem man interdisziplinäre Kompetenzen aufweist. Und es sollte Institutionen geben, in denen dies gefördert wird.

Die Furche: Wie ist die Situation der europäischen Unis im Vergleich zu den USA?

Hösle: Erstens haben US-amerikanische Universitäten viel mehr Geld. Die europäischen Unis sind unterfinanziert und einen gewissen Luxus wie interdisziplinäre Forschungsinstitute kann man sich dann in der Regel nicht leisten. Die Unterfinanzierung der europäischen Unis entsteht unter anderem deshalb, weil es in den meisten Ländern keine Studiengebühren gibt. Und ich sehe nicht, wie das Unterfinanzierungsproblem ohne Studiengebühren gelöst werden kann. Zweitens hat man in den USA ein gleichsam mittelalterliches Uni-System beibehalten, wo der Gang durch die philosophische Fakultät wichtigen Studienrichtungen vorgeschaltet ist. Geisteswissenschaftliche Überblickskurse haben somit in den USA mehr Platz als in Europa. Drittens ist die USA in der Spitzenforschung führend; die überwältigende Anzahl der Nobelpreise geht an US-Wissenschafter. Dadurch entsteht ein besonderer Innovationsschub. Und das US-amerikanische Universitätssystem ist unvergleichlich flexibler als das europäische, das in weiten Teilen noch in einer ständischen Gedankenwelt verhaftet ist.

Die Furche: Wie sehen Sie aktuelle Neuausrichtungen der Geisteswissenschaften, die gesellschaftlichen Veränderungen gerecht zu werden versuchen - Stichwort "Global Humanities“?

Hösle: Dieses Stichwort verweist darauf, dass die eurozentrische Ausrichtung der Forschung in einer stark globalisierten Welt nicht mehr zu halten sein wird. Wenn wir unsere Provinzialität nicht überwinden, haben wir keine Chance in einer Welt, in der vor allem asiatische Kulturen machtvoll nach vorne drängen. Die außereuropäische Welt muss in unserem Studium der menschlichen Kulturen viel stärker berücksichtigt werden, als wir das bisher gemacht haben. Zudem ist die Digitalisierung der Geisteswissenschaften ein großes Hilfsmittel, aber kein Selbstzweck. Sie schafft über das Internet neue Zugänge für Produkte des menschlichen Geistes, die früher nicht denkbar waren. Dass ich heute oft nicht mehr in Bibliotheken gehen muss, ist eine große Erleichterung. Heute können Sie sich ja schon dreidimensional durch Angkor Wat bewegen, ohne dafür nach Kambodscha fliegen zu müssen.

Die Furche: Was halten Sie von der Verbindung von Wissenschaft und Religion, wie sie in den "Maimonides Lectures“ in Österreich etabliert werden soll?

Hösle: Die Einsicht, dass Geisteswissenschaften oft in ein Wertevakuum fallen, führt dazu, dass intelligente Forscher wie die Kollegen hier in Wien das Bedürfnis empfinden, einen neuen und vorurteilsfreien Dialog mit den alten Religionsgemeinschaften zu suchen. Das scheint mir eine sehr verständliche Reaktion auf die wahrgenommene Krise der Geisteswissenschaften zu sein.

Die Furche: Inwiefern können die Geisteswissenschaften zu gesellschaftlich verwertbarem Wissen beitragen?

Hösle: Die Frage, was die Wissenschaft der Gesellschaft zurückgibt, die sie finanziert, ist legitim, gilt aber für alle Fächer und Disziplinen. Das Problem ist, dass man nicht weiß, was später einmal anwendbar sein wird. Manchmal dauert es Jahrtausende, manchmal nur ein paar Jahre, bis eine Theorie zur Anwendung kommt. Ohne grundsätzliche Überlegungen der theoretischen Linguistik hätten wir beispielsweise nicht so schnell Computer-Sprachen entwickeln können. Man wird einen Kompromiss zwischen Grundlagen- und anwendungsorientierter Forschung finden müssen. Die praktische Relevanz der Geisteswissenschaften liegt vor allem darin, dass sie uns helfen, andere Kulturen zu verstehen. Wenn wir transkulturellen Handel treiben, sollten wir nicht nur die fremde Sprache verstehen, sondern auch wissen, wie die fremde Kultur funktioniert und was ihre grundlegenden Werte sind. Tatsächlich ist es so, dass große Unternehmen in den USA eher Leute anstellen, die eine geisteswissenschaftliche Ausbildung haben als Personen mit wirtschaftlichem Hintergrund, da diese größere interkulturelle Kompetenzen aufweisen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung