Die Idee der märchen von den Brüdern Grimm

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Die heute so populäre Gattung des Märchens entstand quasi gegen die Intention der Brüder Grimm, die vor 200 Jahren den ersten Band ihrer berühmten Sammlung herausgaben.

In diesen Tagen und Wochen klingt das Grimm-Jahr aus. Vor 200 Jahren, am 20. Dezember 1812, erschien der erste Band der später so berühmten "Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm. Er bescherte dem deutschsprachigen Kulturraum eine Sammlung populärer Erzählungen, die als das weitestverbreitete Buch deutscher Sprache nach der Luther-Bibel gilt und von vielen als das Kinderbuch schlechthin angesehen wird. Entsprechend wurde das Jahr 2012 von kulturellen und akademischen Veranstaltungen begleitet, und ein Gutteil des Interesses war weniger auf die Märchensammlung selbst gerichtet, sondern auf ihr Weiterleben in der internationalen Popularkultur .

Dabei ist die Entstehungsgeschichte noch immer nicht umfassend geklärt. Sie ist im Kern die Geschichte einer wissenschaftlichen Selbsttäuschung, auf deren Grundlage die heute so populäre und sich so selbstverständlich gebende Gattung des Märchens quasi gegen die Intention der Herausgeber entstand.

Die Fiktion der Sammlung

Zu den langlebigen Legenden des kulturellen Selbstverständnisses in der deutschsprachigen Welt - aber auch jenseits von ihr - gehört die Vorstellung von den Brüdern Grimm, die Volkserzählungen sammelnd und aufzeichnend durch die Lande gezogen seien, um diese dann als Zeugnisse einer anonymen, mündlich überlieferten, altehrwürdigen Volkstradition zu veröffentlichen. Tatsächlich ist diese Vorstellung eine Fiktion, an deren Zustandekommen die Brüder Grimm nicht unschuldig waren. Am Beginn der Märchenarbeit standen erst einmal gar nicht die Brüder Grimm, sondern stand der Romantiker Clemens Brentano, der in Fortsetzung der poetischen Liedersammlung "Des Knaben Wunderhorn“ eine vergleichbare Ausgabe volkstümlicher Erzählungen plante. Für die Vorbereitung gewann er die Brüder Grimm als Mitarbeiter, die aus älterer Literatur und mündlichen Beiträgen Texte zur poetischen Bearbeitung suchen und exzerpieren sollten. Die Muster, die Brentano den Grimms vorlegte, entstammten der Barockliteratur und dem zeitgenössischen romantischen Kunstmärchen. Als Brentano an diesem Projekt nach einiger Zeit kein Interesse mehr zeigte, entschlossen sich die Brüder Grimm, ihr Material zu eigenen Zwecken zu nutzen. Während der romantische Dichter in den Texten poetische Zeugnisse erkannte, sahen die Brüder in ihnen Spiegelungen und Dokumente einer weit in die eigene nationalkulturelle Vergangenheit zurückreichenden mündlichen Erzähltradition, an der sie vornehmlich interessiert waren. Sie standen mit diesem Interesse nicht allein. Im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts hatten Bestrebungen, die kulturellen Grundlagen der eigenen nationalen - deutschen - Geschichte zu entdecken, Konjunktur. Der gemeinsame Bezugspunkt war der Wunsch nach einer verbindenden nationalen Identität, die man dem politisch, militärisch, wirtschaftlich und nicht zuletzt kulturell überlegenen französischen Nachbarn entgegensetzen könnte.

Die Märchenerzählungen galten den Brüdern Grimm primär als Bausteine einer noch zu schreibenden Geschichte der deutschen Poesie. Entsprechend war die Sammlung in ihrer ersten Anlage eine wissenschaftliche Edition. Sie bot ein Textkorpus, das die nach ihrer Einschätzung frühesten und gesichertsten Versionen einer weitestgehend noch unentdeckten "altdeutschen“ Erzählwelt präsentierte, die ihrerseits auf ältere Vorlagen, Brauchtümer und mythologische Quellen zurückverwies. Darüber informierte in der Erstausgabe ein eigener wissenschaftlicher Kommentarteil, der später zu Separatbänden zusammengefasst wurde. Den interessierten Lesern wurden Anmerkungen zu den einzelnen Erzählungen geboten, ungenutzte Bruchstücke, Zeugnisse aus der Literatur sowie eine breit ausgeführte Übersicht über die Geschichte des Märchens. In der Gewissheit, eine weite mündliche Erzähltradition offen gelegt zu haben, schufen die Grimms tatsächlich die Idee einer Märchenwelt, die bis heute wirksam ist.

Auch die einzelnen Märchenerzählungen selbst legen in ihrem Entstehungsprozess Zeugnis davon ab, wie aus der irrigen Überzeugung der Grimms, einen faktischen Archetypus wiederherzustellen, die Erzählform des sogenannten Volksmärchens tatsächlich erst entstand. Ein plastisches Beispiel bietet das "Kinder- und Hausmärchen“ Nr. 180 "Die ungleichen Kinder Evas“. Es erzählt davon, wie Gott Adam und Eva besucht, um ihren Hausstand zu begutachten. In der Sorge, dass der Herr Anstoß an der großen Anzahl der Kinder nehmen könnte, versteckt Eva die eine Hälfte, während sie die andere herausputzt und auf den Besuch vorbereitet. Der Herr erweist sich als ausgesprochen gütig und segnet die Kinder, indem er ihnen herausgehobene soziale Stellungen zuweist - als König, Edelmann, Bürger oder Gelehrter. Davon ermutigt, zeigt Eva auch die bislang versteckten Kinder, die nun ebenfalls gesegnet werden. Doch werden ihnen die unteren Stände zugewiesen - als Bauer, Fischer, Handwerker oder gar nur Hausknecht. Es sei seine Aufgabe, so belehrt Gott die entrüstete Eva zuletzt, die ganze Welt mit ihren Kindern zu versehen: "Jeder soll seinen Stand vertreten, daß einer den andern erhalte und alle ernährt werden wie am Leib die Glieder.“

"Uralte Sage“

Die Erzählung kam in der 5. Auflage 1843 in die Sammlung. Die Begründung dazu lieferte Wilhelm Grimm im Kommentarteil, in dem er auf die weite Verbreitung des Stoffs im 16. Jahrhundert und als frühesten Hinweis auf ein eddisches Lied als mythologische Quelle hinwies. "Die uralte Sage“, so schließen Grimms Erläuterungen, "trug sich zuletzt auf Adam und Eva über.“

Den Märchentext selbst entnahm der jüngere Grimm nahezu wortgetreu der Zusammenfassung eines Hans-Sachs-Schwanks von 1558, die sein Bruder Jacob im Jahr zuvor veröffentlicht hatte. Jacob Grimm hatte in einer wissenschaftlichen Zeitschrift die ihm bekannten literarischen Textvarianten des Stoffs vorgestellt, wobei er sich bei den Zusammenfassungen eng an den Wortlaut seiner Quellen hielt. Was die Grimms nicht wussten, war, dass Hans Sachs wie die anderen Literaten des 16. Jahrhunderts nicht auf eine mündliche Tradition zurückgegriffen hatte, sondern einen Stoff literarisierte, der im späten 15. Jahrhundert als mittellateinisches Predigtexempel populär war. Von einem Karmelitermönch verfasst und in einer Traktatensammlung veröffentlicht, diente er in Predigten gemeinhin dazu, die ein wenig sperrige Bibelpassage des ersten Korintherbriefs über den Leib und die vielen Glieder erzählerisch zu veranschaulichen.

Endprodukt eines literarischen Prozesses

Paulus hatte im zwölften Kapitel seines Briefs die zerstrittene Gemeinde in Korinth dazu aufgefordert, ihre inneren Differenzen beizulegen und sich als Glieder des einen Leibs Christi zu verstehen. Der Karmelitermönch des späten 15. Jahrhunderts hatte für seine Zeit konkret die Unterschiede zwischen Stadt und Land im Blick sowie allgemein den drohenden Auseinanderfall der christlichen Welt. Hans Sachs und seine Zeitgenossen lösten den Stoff aus diesem Predigtkontext und nutzten ihn in der Ständediskussion ihrer Zeit. Im Blickfeld stand die Ungleichheit innerhalb der ständischen Ordnung, die als von Gott gegeben dargestellt wurde. Im mittleren 19. Jahrhundert war die Wiederentdeckung der älteren deutschen Literatur dann Bestandteil einer nationalkulturellen Identitätsvergewisserung. Und so wurde aus der Inhaltsparaphrase eines Schwanks, der auf einem Predigtexempel beruhte, das wiederum eine Bibelpassage erzählerisch zu exemplifizieren suchte, im Akt der Selbsttäuschung ein Märchen.

Das Beispiel lässt sich verallgemeinern: Es zeigt die Geburt eines Märchens aus einer Reihe von Gattungs- und Funktionswechseln, die über die Jahrhunderte fortliefen. Es ist das Endprodukt eines im Kern literarischen Prozesses. Die Herausbildung wurde von der Fiktion getragen, Zeugnisse einer lang zurückreichenden mündlichen Erzähltradition vorzustellen. Die Bausteine für die Entstehungsgeschichte der einzelnen Märchen liegen oft schon bereit. Die spannende Geschichte zu schreiben, steht aber noch aus.

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