Die Illusion des Abendlandes

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Thema: Einehe/Vielehe

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Rabbiner Abraham Geiger (1810–1874) befand: „Das Judentum lehrt die Ehe des einen Weibes mit einem Manne, die Monogamie.“ Das war jedoch nicht immer so. In biblischer Zeit und noch viel später kam es vor, dass ein Mann nicht nur eine Ehefrau hatte. Jakob, der Stammvater des Volkes Israel, war – wie auch Mose und andere biblische Personen – mit zwei Frauen verheiratet. Einige Gesetze im Pentateuch gehen klar davon aus, dass ein Mann mehrere Frauen ehelichen konnte. Auch die meisten talmudischen Gelehrten akzeptierten das. Es war allerdings ein Privileg der Wohlhabenden.

Wenn sich schließlich in Europa eine monogame Präferenz entwickelte, ist dies auf den Einfluss der griechischen und römischen Kultur und der Kirche zurückzuführen. Der oströmische Kaiser Justinian verbot die Polygamie im 6. Jahrhundert. Die spätere jüdische Rechtsliteratur berichtet, auch Rabbiner Gerschom ben Juda aus Mainz habe um 1040 ein Dekret gegen die Vielehe erlassen. In den vom Islam geprägten mittelalterlichen jüdischen Gemeinden wurde die Mehrehe hingegen weithin akzeptiert. Maimonides gestattete einem Mann, bis zu vier Frauen zu heiraten – eine Regel, die auch im Islam gültig ist. Rabbiner Eliezer Papo (1785–1826) aus Sarajewo erwähnt noch im 19. Jahrhundert die Möglichkeit der Bigamie bei Kinderlosigkeit. Mehrere Ehefrauen waren also in weiten Teilen des sefardischen Judentums lange üblich. Einwanderer in den Staat Israel mussten sich zwar für eine Ehefrau entscheiden, den anderen gegenüber blieben sie jedoch unterhaltspflichtig. Was zeigt uns das? Ein „jüdischchristliches Abendland“ im Sinn einer exklusiven Wertegemeinschaft gibt es nicht. Auf biblischer Basis haben sich in den drei Schriftreligionen ganz unterschiedliche kulturelle Konventionen entwickelt. Dabei ist das Judentum dem Islam oft genauso nah wie dem Christentum.

* Der Autor ist Rektor des Abraham-Geiger-Kollegs in Potsdam

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