Die Illusion und ihre seltsamen Währungen

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Aufmerksamkeit ist die Triebfeder der Marktwirtschaft. Von Entwicklung im Sinne menschlichen Fortschritts kann dabei aber nicht die Rede sein.

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Aufmerksamkeit ist die Triebfeder der Marktwirtschaft. Von Entwicklung im Sinne menschlichen Fortschritts kann dabei aber nicht die Rede sein.

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Auf den ersten Blick mag es etwas seltsam anmuten, in einem Text über Aufmerksamkeit in der Wirtschaft das Begehren an die erste Stelle zu setzen. Aufmerksamkeit fühlt sich doch viel bedächtiger an und zarter, sie verweigert nach außen hin geradezu das Begehren als rohe Form und hält sich selbst für wesentlich edler. Wenn jemand also sagt: "Oh, wie aufmerksam von Ihnen" - diesem jenigen würde sicher nicht im Traum einfallen zu sagen: "Oh, wie begehrlich von Ihnen". Doch das ist nicht die Aufmerksamkeit, von der hier die Rede sein soll. Es geht nicht um Höflichkeit. Eigentlich geht es sogar um das Gegenteil. Versteht man unter Aufmerksamkeit nämlich das einfache Gewahr-werden, dann mutiert sie in Windeseile von der sittlichen Konvention zum sinnlichen Rohinitial, und in jedem Begehren müsste dann die Aufmerksamkeit als Verursacherin am Werk sein. Man muss aufmerksam auf etwas geworden sein um etwas zu wollen, ein Spielzeug, ein Auto, ein Kleid, eine Person.

Das klingt ganz banal, aber diese Banalität ist die Triebfeder der modernen Marktwirtschaft. Im Begehren liegt der Wille zum Besitz, und dieser Wille ist der Eros des wirtschaftlichen Handelns, die "unsichtbare Hand", die nach marktwirtschaftlicher Urtheorie das Streben nach individuellem Eigennutz zum Wohlstand der Nationen auftürmen kann. Und da sich die Ökonomie trotz ihres edlen Ziels sehr wenig um noble Zurückhaltung und gute Sitten müht, steht in ihrem mechanischen Herzen bloß eine Frage geschrieben: "Wie schaffe ich Aufmerksamkeit und Begehren -wie schaffe ich Markt?"

Der Pfauentanz der Werbung

Das führt direkt zum Pfauentanz und den bunten Federn der Werbung. Wider jede Behauptung passiert Aufmerksamkeit auch dort unter weiträumiger Umfahrung des guten Tons. Die Werbung meint nicht: "Wie schön, dass Sie auf mich aufmerksam geworden sind", sondern "Wenn sie schon herschauen, begehren sie gefälligst auch!" Im Sinne dieses oft schlechten Tons kommt es auch zu einem seltsamen Währungswechsel. Die Werbung wirbt am erfolgreichsten, wenn sie an die ursprünglichsten Instinkte des Menschen appelliert und die primären Rezeptoren der Aufmerksamkeit ansprechen kann.

Das ist zunächst der Sexualtrieb und alle mit ihm verbundenen Impulse wie Liebe, Lustempfinden, Schmerz, Dominanz, Erniedrigung, Schutzbedürfnis und so fort. Wenn also eine Blondine mit mehr oder weniger verhülltem Busen auf einer Motorhaube lümmelt, dann ist das keine Themenverfehlung, sondern ein solcher Währungswechsel. Das Produkt in all seiner Schönheit und Perfektion ist nicht mehr das primäre Ziel des Begehrens. Es wird abgewertet zum Medium und zur Überleitung eines ganz anderen Versprechens - in diesem Fall Sex.

Der Eros des Marktes

Nur unwesentlich anders läuft es in einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Werbungen der Geschichte, in der eine lachende Familie über eine Blumenwiese läuft und mit ihrer beneidenswerten sommerlichen Harmonie für eine Bausparkasse wirbt. Hier ist das eigentliche Produkt vollkommen hinter einer Impulsfassade verschwunden. Der Wunsch nach Glück ersetzt die fade Geldanlage. Die Werbung war sozusagen im Ausschlussverfahren erfolgreich, weil sie das Produkt ausgelassen hat. Der Währungswechsel ist komplett. Liebe ersetzt den Bausparer, so wie die Fruchtzwerge, der Rasierapparat oder die Instantpizza intelligente Kinder, rassige Männlichkeit oder eine glückliche Mama produzieren.

Während also das Sich-Hingezogen-Fühlen zu Gegenständen Triebenergie von zwischenmenschlichen Regungen abzieht, täuscht die Werbung nichts anderes vor, als dass die Triebenergie wieder auf die zwischenmenschliche Ebene zurückfällt. Das ist einer der größten Coups in der Geschichte der Illusionskunst. Und er erscheint umso größer, als es niemals zu einer Enttäuschung der Betrogenen kommt, sondern das eine Begehren stets vom nächsten ersetzt wird. Der vom Eros des Marktes angetriebene Konsument bekommt immer eine nächste Chance. Man könnte hier auch die Rockband REM und ihre Liebesballade "Strange Currencies" zitieren: "You know with love comes strange currencies / And here is my appeal / I need a chance, a second chance, a third chance, a fourth chance / A word, a signal, a nod, a little breath / Just to fool myself, to catch myself, to make it real, real."

Selbstverständlich findet in der modernen Marktwirtschaft weder echte Triebbefriedigung noch Entwicklung im Sinn menschlichen Fortschritts statt. Die Wirtschaft arbeitet so gesehen ausschließlich mit dem zivilisatorischen Repertoire des Höhlenmenschen. Woraus schließlich folgt: Wären die Subjekte der Marktwirtschaft, also wir alle, etwas ehrlicher zueinander, wir würden wahrscheinlich in den meisten Fällen wirklich sagen: "Oh, wie begehrlich von Ihnen", und damit unserer Aufmerksamkeit die ihr höchstmögliche Ehre erweisen.

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