Die Katastrophe von Tschernobyl

Werbung
Werbung
Werbung

Getreide, Gurken, rote Rüben und Erdäpfel bauen Dikunowys auf ihren zwei Hektar Grund im Süden Weißrusslands an; dazu kommt noch die Milch ihrer zwei Kühe, das Fleisch von ein paar Schweinen und die Eier ihrer Hühner - "wir haben alles selber", sagt Elena Dikunowa, ob und wie sehr die Lebensmittel Marke Eigenbau jedoch radioaktiv verstrahlt sind, kann sie nicht sagen. Die nächste Messstelle ist in Gomel, doch mit dem Pferdefuhrwerk sind die rund 40 Kilometer in die Bezirkshauptstadt eine viel zu weite Entfernung. "Ich glaube aber, unser Essen ist sauber", ist die Mutter von elf Kindern überzeugt.

Giftige Schwammerl

Die weißrussische Übersetzerin widerspricht Frau Dikunowa: Eine Freundin brachte Pilze zur Strahlungskontrolle - zurückbekommen hat sie die Schwammerl nicht mehr; vielmehr habe man ihr dort den Rat gegeben, den Korb, die Schüssel, den Kühlschrank, einfach alles, was mit den Pilzen in Kontakt gekommen ist, so rasch wie möglich wegzuwerfen.

43.000 Quadratkilometer oder gut ein Fünftel Weißrusslands (das entspricht der Fläche der Schweiz) sind radioaktiv verstrahlt. Doch sowohl für Weißrussland als auch für die Ukraine und Russland gilt: Die belasteten Zonen sind keine geschlossenen Gebiete, die Verstrahlung des Bodens ist stark unterschiedlich, denn Wind und Regenschauer haben die Radioaktivität in den ersten zehn Tagen nach dem Super-Gau sehr unterschiedlich verteilt.

In den ersten Jahren nach dem Unglück hat es zuwenig Information für die Bevölkerung gegeben, klagt Swetlana Moschtschinskaja, die Leiterin des Tschernobyl-Komitees in Minsk, auf Nachfrage der furche, aber mittlerweile sei der Zugang zu allen Daten "völlig offen". Und durch die lange Erfahrung wisse die Behörde heute genau, welche Dünge-und Anbaustrategien man den Bauern empfehlen muss, damit diese "sichere Produkte" erzeugen. Die angespannte wirtschaftliche Situation trägt jedoch sehr dazu bei, dass bei vielen die Sorglosigkeit überhand nimmt, sagt Moschtschinskaja: "Die Menschen machen sich Sorgen, wie sie überhaupt durchkommen können und erst danach achten sie auf ihre Gesundheit."

"Wie in Schweißerwerkstatt"

Mit der Gesundheit von Sergej Netschiparenko war es bald nach dessen Rückkehr aus Tschernobyl vorbei. Während des Einsatzes hatten ihn und seine Kameraden gerötete Haut, trockener Hals und ein metallener Geschmack im Mund, "so wie in einer Schweißerwerkstatt", gequält. Nach wenigen Tagen daheim in Charkow ist Netschiparenko aber auf dem Weg von der Arbeit nach Hause in der u-Bahn das erste Mal ohnmächtig zusammengebrochen - der Anfang eines langen Leidensweges: Im Oktober des gleichen Jahres wird er zum ersten Mal an der Schilddrüse operiert, wenige Monate später in Frühpension geschickt; Ohnmachtsanfälle, Gliederschmerzen und noch eine Krebsoperation sind weitere "Nachwehen" seines Tschernobyl-Einsatzes, die Netschiparenko in den Jahren seither erdulden musste. Dabei geht es ihm noch verhältnismäßig gut: "Von den 19.000 Liquidatoren aus der Region Charkow", rechnet Netschiparenko vor, "sind noch 4000 am Leben." Gestorben sind seine Kameraden an der Strahlenkrankheit - oder weil sie der psychischen Belastung nicht mehr standgehalten und sich umgebracht haben. Netschiparenko wählte einen anderen Weg zu Aufarbeitung seines persönlichen Tschernobyl-Dramas: Er kämpft für die sozialen Rechte der Tschernobyl-Veteranen.

Selbstmord als Ausweg

Am Jahrestag der Katastrophe will sich Sergej Netschiparenko mit seinen verbliebenen Kameraden zusammensetzen: Sie werden Erinnerungen austauschen und darüber reden, dass sie letztlich ihren Auftrag "mit Stolz" erfüllt haben: "Wir haben unser Land und Europa gerettet", sagt der Veteran, "ich würde es wieder tun." Elena Dikunowa wiederum wird in diesen Tagen ihr altes Dorf und das Grab ihrer Eltern besuchen - für immer zurückkehren, möchte sie aber nicht: "Da fühle ich mich schon jetzt sicherer." Und Olga Gawrilenko, die alte Selbstsiedlerin, wird das traurige Jubiläum dort begehen, wo sie immer geblieben ist: in Tschernobyl.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung