Die Kinder fuhren ins Moskauer Exil

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Als Sohn eines österreichischen Februrarkämpfers kam Johann Wierländer nach Rußland, als angeblicher Hitlerjunge verschwand er im "Archipel Gulag".

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Als Sohn eines österreichischen Februrarkämpfers kam Johann Wierländer nach Rußland, als angeblicher Hitlerjunge verschwand er im "Archipel Gulag".

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Das Buch "Kinderheim Nr. 6" schildert das Schicksal von rund 120 österreichischen Kindern politisch Verfolgter, die von der "Roten Hilfe" nach dem Februar 1934 in die Sowjetunion geschickt wurden, um ihnen dort ein besseres Leben zu ermöglichen. Im Mittelpunkt stehen bislang Vergessene, von denen vielen die Jugend gestohlen wurde. Die Autoren, Hans Schafranek (Wien) und Natalja Mussijenko (Moskau), konfrontieren die Propaganda der internationalen Solidarität mit der harten und bedrückenden Realität des Stalinismus und dokumentieren auch, wie die große Welt in der kleinen ihre Probe hielt.

Ausgangspunkt ist ein verfallenes Haus in Moskau, deren es viele gibt, mit desolaten Regenrinnen und einem Innenhof, der einem Abfallplatz gleicht. So zumindest baut sich das Bild in der Erinnerung des Rezensenten auf, der im Zuge eines Forschungsprojektes "Österreicher in der Sowjetunion" Anfang der neunziger Jahre zum ersten Mal das Gebäude der Moskauer Schulverwaltung betrat, begleitet von Asja Steiner, die als junges Mädchen als Erzieherin im Kinderheim Nr. 6 gearbeitet hatte.

In einem Zimmer, an dessen Wänden viele Fotos hingen und andere an den Kästen lehnten, Fotos verdienter Pädagogen, wie mir versichert wurde, bekamen wir damals einige Schachteln ausgehändigt. Sie enthielten die gebündelte Geschichte der 120 österreichischen Kinder von Februarkämpfern. Akten mit Fotos, Zeugnisse, Briefe, die nie abgeschickt, sondern zurückgehalten worden waren und nicht zuletzt Beurteilungen. Geschichte, verschnürt in Kartons, erstmals geöffnet nach Jahrzehnten. Ein Teil der österreichischen Geschichte, vergraben zwischen Aktenbergen in Moskau. Diese Kinder und Jugendliche sind vergessene Opfer, für die im Österreich der dreißiger Jahre nicht gesorgt werden konnte und die durch die politische Situation oft durch Jahre von den Familien abgeschnitten lebten. Nach mehr als sieben Jahren detektivischer Arbeit hat Hans Schafranek, ausgehend von diesem Material aus Moskau, die Geschichte der Hoffnungen und Enttäuschungen geschrieben. Akribisch hat er das Leben von 100 Kindern und deren Weg in die Sowjetunion nachgezeichnet.

Ausgangspunkt für die Fahrt in die Sowjetunion war eine Wohnung in der Quellenstraße 209 in Wien Favoriten, von wo es zum Gasthaus Bergauer in Seefeld im Bezirk Hollabrunn und von dort illegal über die Grenze in die Tschechoslowakei ging. Viele Kinder, die in Österreich in beengten, oft katastrophalen Verhältnissen wohnten und deren Familien durch die Verhaftung der Väter mit dem nackten Überleben kämpften, wußten nicht, daß sie in die UdSSR reisen würden, als sie wegfuhren. "Einige Eltern erlangten erst durch Postkarten bzw. Briefe aus Moskau Kenntnis von dem eigentlich Reiseziel." Die Erzieher im Kinderheim Nr. 6 leisteten Großes und versuchten den Kindern jene Wärme zu geben, die sie zu Hause oft nicht bekommen hatten. Gleichzeitig spiegelt sich in der Beurteilung der Kinder durch die Erzieher aber jene krankhafte und schablonenhafte Sicht der Welt, die bei den Erwachsenen im Kaderakt oft das Todesurteil besiegelte.

Die große Welt hielt in der kleinen ihre Probe, im krankhaften Spiel von Kritik und Selbstkritik, in minutiösen und umfangreichen Arbeitsplänen der österreichischen Pioniere, bei denen die banalsten Disziplinverstöße eine politische Dimension bekamen: "Die Wachsamkeit besteht darin, daß man in allen falschen Handlungen die politischen Wurzeln sieht." Politische Indoktrination machte ebensowenig vor dem Klassenzimmer halt wie der stalinistische Terror: "Ich verpflichte mich, bis zum 17. Parteitag keine einzige Bemerkung wegen schlechten Betragens zu bekommen" oder "Unser Geschenk an den 17. Parteitag: Null Prozent Ungenügend in Mathematik".

Der Fall des pädagogischen Leiters, des Deutschen Fritz Beyes, zeigt exemplarisch die Arbeit des NKWD. Das Wahnsystem legte im voraus "bestimmte von den Spitzen des Parteiapparates genehmigte Kontingente von ,Volksfeinden', die innerhalb eines bestimmten Zeitraumes zu verhaften und abzuurteilen waren", fest. Beyes wurde als angeblicher Spion zum Tode verurteilt und erschossen oder starb in einem Lager. Auch einige Kinder-Emigranten wurden im Juli 1938 als Mitglieder einer fiktiven Hitlerjugend "entlarvt", unter ihnen der Österreicher Johann Wierländer, der zu acht Jahren Lagerhaft verurteilt wurde, die er nicht überlebte. Wann, wie, wo er zugrundeging, ist bis heute ungewiß.

Eine Reihe von Einzelschicksalen, so die abenteuerliche Odysee von Karl Münichreiter hinter den deutschen Linien in der Sowjetunion, der letztlich als Sohn des hingerichteten Februarkämpfers 1943 nach Wien zurückkehren konnte, sowie ein Interview mit Wolfgang Leonhard, runden das Bild ab. Schade ist nur, daß die Geschichten der Kinder des Kinderheimes Nr. 6, von denen einige wieder nach Österreich zurückkehren konnten, nicht bis heute fortgeschrieben wurde. Die Auseinandersetzung mit den betrogenen Hoffnungen bleibt weitgehend ausgespart. Doch dies ist möglicherweise auch ein Zeichen für die Stärke der Verwundungen und die Zurückhaltung der Opfer, die oft nur dadurch mit ihrer Geschichte fertigwerden können, daß sie ihr Schicksal als abgeschlossene Geschichte schildern.

Kinderheim Nr. 6 Österreichische und deutsche Kinder im sowjetischen Exil. Von Hans Schafranek und Natalja Mussijenko Döcker Verlag, Wien 1998, 251 Seiten, geb., Bilder, öS 298,-/e 21,66,-

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