Die Krankheit eines Systems

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Vor 15 Jahren brach die Affäre Groër los: Die Missbrauchsvorwürfe gegen den Wiener Kardinal schienen auf einen Einzelfall hinzudeuten. Das Kirchenvolks-Begehren im selben Jahr diente dazu, die Empörung zu besänftigen. Die Aktivisten dieser Aktion (darunter der Autor) haben letztlich nur den empörten Gläubigen beim Dampfablassen assistiert.

Es hätte sich gelohnt, bei einer unlängst stattgefundenen Fernsehdiskussion über Pädophilie in der Kirche mitzuzählen, wie oft das Sprachspiel vom „sexuellen Missbrauch“ verwendet wurde. Denn es enthält einen unbewussten Zynismus, der mehr über uns verrät, als uns lieb ist: Man kann nur missbrauchen, was man auch gebrauchen kann. Und Menschen sollte man überhaupt nicht – und schon gar nicht sexuell – „gebrauchen“. Das wurde erfreulicherweise im Diskurs auch vermerkt. Es geht um die Menschenwürde, die allen Menschen ungeachtet jeglicher Unterschiede zusteht. Religiös gesprochen: Vor Gott sind alle Menschen gleich. Auch – und gerade – Kinder. Dass die katholische Kirche, die sich erfreulicherweise immer wieder für Menschenrechte, für Flüchtlinge, für Behinderte, Kranke und Bedürftige einsetzt, offensichtlich ein Raum für vielfältige pädophile Verfehlungen geworden ist, macht das Jahr 2010 bereits jetzt zu einem Horrorjahr der Kirchengeschichte.

Wir „nützliche Idioten“

Ein Rückblick auf das Jahr 1995: Der Kardinal und Erzbischof von Wien wurde pädophiler, aber verjährter Vergehen bezichtigt und ohne Verfahren in ein Kloster versteckt. Erst Jahre später konstatierte der Nachfolger die Korrektheit der Vorwürfe. Was damals anders war: Es schien wegen der Prominenz des Täters ein Einzelfall zu sein. Der Nachfolger handelte korrekt. Das erfolgreiche Kirchenvolks-Begehren im Frühsommer diente dazu, die Empörung zu besänftigen. Die Aktivisten dieser Aktion (darunter der Autor) müssen rückblickend erkennen, dass sie letztlich nur halfen, den empörten Gläubigen beim Dampfablassen zu assistieren. Die Kirchenvolks-Begehrer haben in Wirklichkeit den Bischöfen die Kastanien aus dem Feuer geholt. Und das reichlich unbedankt. („Nützliche Idioten“ nennt man das anderswo.)

Was bereits damals Beobachter der pädophilen Kirchenszene feststellten: Der Kardinal war als früherer Religionslehrer am Hollabrunner Knabenseminar eine durchaus imponierende Persönlichkeit mit starker Ausstrahlung auf die Seminaristen, die den beeindruckenden Pädagogen verehrten. Elegant und eloquent, mit goldenen Manschettenknöpfen unter den Ärmeln des Talars, mit jugendlich kinderbetörendem Charme ausgestattet, wollten es viele nicht für möglich halten, dass ausgerechnet dieser gewinnende Knabenfreund seine Verehrer missbraucht haben soll. Die erotische Ausstrahlung nie wirklich erwachsen gewordener Männer auf unerwachsene Knaben, die fern ihrer Familien einem frauenlosen Männerideal entgegenwuchsen, hätte auffallen können.

Jetzt – 15 Jahre später – wird in der Vielzahl der Vorfälle sichtbar, was damals als Einzelfall schnell abgetan war: Der Großteil der aktuellen Pädophiliefälle ereignete sich in der Ambivalenz der pädagogischen Intimität: in Knabeninternaten, in Klosterschulen, in der pfarrlichen Kinder- und Jugendseelsorge. Hier waren keine sadistischen Kinderfeinde, sondern ambivalente Kinderfreunde am Werk. Männer mit unausgereifter Sexualität, vielleicht schon jahrzehntelang niedergehalten in vermeintlich sublimierender Frömmigkeit. Dass es häufig dieselben Pädagogen waren, die prügelten und schmusten, belegt die gefährliche Ambivalenz verklemmter Erotik und verbogener Frömmigkeit. Unter dem Mantel der Gottgefälligkeit ist gut sündigen. Man kann ja zur Not auch beichten.

Natürlich gibt es auch in außerkirchlichen Bereichen pädophile Verfehlungen. Diesen Hinweis in Art einer Entschuldigung vorzubringen, ist jedoch üble Ablenkungsrhetorik und verrät eine doch etwas kindliche Einstellung: Hier verhalten sich Kirchenvertreter wie die bösen Buben, die zur Rechtfertigung eigener Missetaten den Nachbarn beim Lehrer verpetzen. Viele kirchlicherseits abgelegte Beteuerungen, wie sehr man die Vorfälle bedauere, verabscheue und verurteile, sind eigentlich Selbstverständlichkeiten. Sämtliches Bedauern, Verabscheuen und Verurteilen ist nur dann etwas wert, wenn man sich ernsthaft den Ursachen stellt. Mehr Kontrollen, mehr Strafen und mehr Hilfe für die Geschädigten sind deshalb zu wenig, weil sie das Wichtigste vernachlässigen: die Ursachen.

Vor allem ein katholisches Problem

Und an dieser Stelle kommen fast ausschließlich Verweigerungen. Man erklärt vor allem, womit die klerikale Pädophilie nichts zu tun hat: angeblich weder mit dem Zölibat noch mit der kirchlichen Sexualmoral noch mit dem männerbündischen Klerikalismus und dem Ausschluss der Frauen aus dem klerikalen Intensivsegment der Kirche. Man schreckt nicht einmal vor dem – allerdings wirklich erlogenen – Argument zurück, auch die evangelischen Kirchen hätten die gleichen Probleme. Dabei ist offensichtlich, dass alle anderen christlichen Kirchen derartige Vorfälle signifikant seltener erleben. Es handelt sich um ein vor allem katholisches Problem.

Um es in der Sprache der kirchlichen Bußpraxis zu sagen: Die Vergebung setzt nicht nur das Eingeständnis der Schuld und den Vorsatz, sich zu bessern voraus, sondern auch die Auseinandersetzung mit den Bedingungen der Schuld. Angewandt auf die Häufigkeit pädophiler Vergehen unter Klerikern und Ordensleuten: Es geht um die Ursachen, die Voraussetzungen, unter denen das entstehen, sich ausbreiten und in Heimlichkeit wuchern konnte, was jetzt zutage tritt. So gesehen ist der gegenwärtige Augenblick der Kirchenkatastrophe nicht nur eine schwarze Stunde des Katholizismus, sondern zugleich der Augenblick einer historischen Chance, die Bedingungen klerikaler Pädophilie zu ergründen. Deshalb ein Vorschlag:

Öffentliche Kirchenbuße

Kleriker sind in diese Causa befangen (– auch ich). Es wäre deshalb wichtig, wenn die Hierarchie für eine Phase der kausalen Erforschung sich selbst zurückziehen könnte. Ein Auftrag an Fachleute der betroffenen Disziplinen – Tiefenpsychologie, Medizin, Psychiatrie, Soziologie, Theologie etc. – zur Erkundung der Bedingungen, die gerade im kirchlichen Raum zu den gehäuften Fällen klerikaler Pädophilie geführt haben, könnte zu einem Vorschlagspaket an die Kirchenleitung führen, über das nach öffentlicher Diskussion entschieden werden sollte. Man könnte diesen ernsthaften Erforschungs- und Reformprozess als tätigen Heilungsprozess – man ist versucht zu sagen: als „öffentliche Kirchenbuße“ – verstehen, bei dem aus geballtem Unheil das entstehen könnte, was theologisch „Heil“ und medizinisch „Heilung“ genannt wird.

Fazit: Die historische „Causa Groër“ (1995) und das daraus erwachsene Kirchenvolks-Begehren war die erste Chance einer Kirchenreform. Der Schaden aus der vergebenen Chance war groß genug. Jetzt bietet sich die zweite Chance. Der Preis einer weiteren Verweigerung wird schrecklich sein.

* Der Autor ist Akademiker- und Künstlerseelsorger in Linz und Rektor der Ursulinenkirche. 1995 publizierte er das Buch: „Das Schweigen des Kardinals und das Begehren des Kirchenvolks“.

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