Die Kunst der Unterbrechung

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Auch heute, an einem Novembertag des Jahres 2013, kann man nur staunen, sobald man dieses Buch aufschlägt. In "Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman“ fällt sofort die ungewöhnliche Interpunktion auf: die vielen Gedankenstriche, wobei es kurze, lange und sehr, sehr lange gibt, Sternchen, eines, zwei, mehrere, viele, Leerstellen mitten im Satz, Strichpunkte und Doppelpunkte an Orten, wo sie die Orthographie nicht erlaubt. Aber hier geht es nicht um das richtige Schreiben.

Dazu kommen andere Auffälligkeiten: zwei Seiten sind komplett schwarz - sobald man zu lesen beginnt, weiß man warum: der arme Yorick ist gestorben -, eine Seite bleibt völlig leer - der (hier wohl männliche) Leser wird eingeladen, seine Phantasie walten zu lassen (nämlich über die Schönheit einer Frau). Ein Blatt wiederum ist farbig marmoriert, das Bild dient - so der Erzähler - als "buntscheckiges Sinnbild meines Werkes“.

Auf einer anderen Seite wiederum finden sich zackige Fieberkurven, die den Verlauf der Erzählung skizzieren und zeigen, wie wenig geradlinig sie verläuft. Hier ignoriert einer den klassischen Aufbau mit Einleitung, Hauptteil und Schluss - und er zeigt, dass er ihn ignoriert. Im neunten Band bleibt die Seite des achtzehnten und neunzehnten Kapitels weiß, keine Zeile folgt der Überschrift. Dafür handelt sich die Handlung dann doch etwas weiter und als es in Kapitel 25 tatsächlich spannend werden könnte, wird alles unterbrochen: Voilà, hier sind Kapitel 18 und 19, nachgereicht.

Das allerwunderlichste Buch

"Es handelt sich um das allerwunderlichste Buch, das jemals mit dem Anspruch eines Romans auftrat“, schrieb Hans Mayer in seiner "Weltliteratur“. Und diese Wunderlichkeit bezieht sich beileibe nicht nur auf Interpunktion und Formalien, sondern auch auf die "Handlung“, die ebenfalls dekonstruiert, was einen herkömmlichen Roman ausmacht.

So findet sich die damals übliche Zueignung an den Leser erst unvermutet im achten Kapitel. Sie ist so eigentümlich, dass sie vom Autor selbst noch kommentiert wird. Im zwanzigsten Kapitel des dritten Bandes (der ein Jahr nach den ersten beiden erschien) kommt "Des Autors Vorrede“, die dadurch keine Vorrede mehr ist. Dafür findet sich hier - diese Abschweifung sei erlaubt, weil sie exemplarisch zeigt, wie erfrischend böse und erstaunlich aktuell Sternes Schreiben ist - ein kleiner Exkurs: "Ich hasse steife Dissertationen, - und es gibt auf der Welt nichts Törichteres, als wenn man darin seine Hypothese dadurch verdunkelt, daß man eine Menge großmächtiger, undurchschaubarer Worte in gerader Reihe hintereinander zwischen sein eigenes Begriffsvermögen und das seines Lesers stellt“.

Sternes Kunst der Unterbrechung und der Abschweifung machte den Roman damals so einzigartig und lässt auch heute noch staunen. Geradezu postmodern wirkt dieses Werk mit seinen Reflexionen und Exkursen, mit seinem Spiel mit dem Leser, der direkt angesprochen wird und zum Innehalten, zur Stellungnahme, zum aufmerksamen Lesen aufgefordert wird.

So etwas könnte mühsam zu lesen sein, ist es aber nicht. 250 Jahre nach seiner Entstehung ist der Roman immer noch frisch, frech, spottend, klug, pointiert und unterhaltsam. Die Abschweifungen und Exkurse nützt Sterne für ebenso blitzgescheite wie auch bitterböse Kommentare zu seiner Zeit. Kritiker, Gelehrte, Theologen, sie alle bekommen etwas ab und man kann kaum glauben, dass hier ein Geistlicher schreibt. Damals konnte einen schon der Titel stutzig machen: Hier ist nicht wie üblich von Leben und Abenteuern die Rede, sondern von Leben und Ansichten. Ja, diese Ansichten nehmen ihren Lauf. Oder, um es mit Sternes Worten zu sagen: "Alles, was ich wünsche, ist, daß es der Welt eine Lehre sein möge: ‚die Leute ihre Historien auf ihre eigne Art erzählen zu lassen.‘“

Auf eigene Art

Und wie eigenartig hier erzählt wird! So kommt es, dass man weniger über Tristram, den Erzähler dieses Romans erfährt, mehr dafür über dessen Onkel Toby, den verwundeten Ex-Offizier, der wie ein Sancho Pansa die Don Quijoterien von Tristrams Vater Walter stört, der sich seinerseits von einer Theorie zur nächsten schwingt, aber fürs Lebenspraktische ohne seine Frau verloren wäre. Onkel Toby hat wiederum in Korporal Trim seinen eigenen Sancho Pansa.

"Ist’s nicht schändlich, zwei Kapitel aus dem Geschehen beim Hinabsteigen einer Treppe zu machen?“ Acht Kapitel lang lauscht Tristrams Mutter an der Tür, und drei Bände braucht es, bis man überhaupt erst einmal beim ersten Lebenstag des Ich-Erzählers landet.

Die neun Bände von Sternes "Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman“ erschienen in jährlichen Fortsetzungen zwischen 1759 bis 1767. Im Nu war aus dem Pfarrer aus dem Yorker Hinterland, der 1759 in seinem ersten Buch das kirchliche Ämterschachern in York angeprangert hatte - von 500 gedruckten Büchern wurden bis auf sechs alle vernichtet - ein Londoner "Salonlöwe“ geworden. Doch neben Begeisterung erntete er auch Entsetzen. Man erkannte die sexuellen Anspielungen, den doppelten Boden und warnte die Frauen vor dieser "verdorbenen“ Literatur.

Vollendet ist der "Tristram“ nicht und wäre der kranke Sterne nicht mit 55 Jahren gestorben, hätte er vermutlich weitergeschrieben. Im Jahr seines Todes erschien jenes Werk, das eine neue Art von Reiseliteratur begründete: die "Sentimental Journey“. Lessing schenkte Johann Joachim Christoph Bode für seine Übersetzung das Wort "empfindsam“ und damit einer ganzen Epoche der Literaturgeschichte ihren Namen.

Als Sterne starb, war er aus der Gunst gefallen, aber seine literarische Nachwirkung war enorm: "Yorick-Sterne war der schönste Geist, der je gewirkt hat; wer ihn liest, fühlt sich gleich frei und schön“, schwärmte Goethe, und in einem Brief am 5. Oktober 1830: "Ich habe dieser Tage wieder in Sternes Tristram hineingesehen, der, gerade als ich ein unseliges Studentchen war, in Deutschland großes Aufsehen machte. Mit den Jahren nahm und nimmt meine Bewunderung zu; denn wer hat Anno 1759 Pedanterei und Philisterei so trefflich eingesehen und mit solcher Heiterkeit geschildert. Ich kenne noch immer seinesgleichen nicht in dem weiten Bücherkreise.“

Existenzielle Entdeckungen

Sterne wusste wie nach ihm Jean Paul das Alltägliche in den unverfrorenen Blick zu nehmen, und damit Hierarchien wie groß und klein, wichtig und unwichtig abzubauen. Sternes "Unbekümmertheit und Frivolität und mehr noch die schockierende Bedeutungslosigkeit der von ihm behandelten Sujets“ hätten damals Ärger verursacht und zu Sternes "Absetzung“ geführt, meinte Milan Kundera. Aber ist "nicht gerade die Bedeutungslosigkeit eines unserer größten Probleme? Ist sie nicht unser Los? Und wenn ja, ist dieses Los unsere Chance oder unser Unglück? Unsere Demütigung oder, im Gegenteil, unsere Erleichterung, unsere Ausflucht, unsere Idylle, unsere Zuflucht?

Diese Fragen waren unerwartet und provozierend. Erst das formale Spiel in Tristram Shandy hat es möglich gemacht, sie zu stellen. In der Kunst des Romans sind existenzielle Entdeckungen und der Wandel der Form unzertrennlich.“

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