Evangelische Christ/innen staunen immer wieder darüber, dass Themen der Sexualität, bis hin zur Einmischung in Details des ehelichen Lebens, in der römischen Amtskirche einen so großen Stellenwert einnehmen. Werden mit derselben Dringlichkeit soziale Gerechtigkeit, Menschenrechte oder ein fairer Umgang mit Asylanten gefordert? Aus evangelischer Sicht ist das Gewissen die letzte menschliche Instanz für Entscheidungen, in der Ehe nicht anders als in der Politik, ein Gewissen, das sich am Evangelium orientiert und dennoch vor Irrtum nicht gefeit ist.
Dieser scheinbare Widerspruch hat nichts mit Beliebigkeit oder Relativismus zu tun. Vorschriften und Verbote haben nämlich eine fatale Wirkung. Sie können zwar zwingen, aber indem sie es tun, schalten sie das Gewissen aus, nehmen sie dem Menschen gerade das, was ihn zum Menschen macht: die Möglichkeit, selbst Verantwortung zu tragen. Paulus schreibt im Römerbrief, wie heilig ihm das Gesetz ist, und erkennt gerade daran, dass er es nicht erfüllen kann (Röm 7,12.23). Der Mensch lässt sich nicht perfektionieren und bleibt auf die Barmherzigkeit Gottes angewiesen. Vorschriften können zwar zwingen, aber sie berühren das Herz nicht, in das die geschenkte Gottes- und Nächstenliebe ihren Anker werfen. Moralische oder kirchen-rechtliche Vorschriften sind kein Weg zu Gott, verführen vielmehr leicht zu Ausflüchten in Selbstgerechtigkeit oder Heuchelei.
Diese Einsicht des Paulus wurde zur Grundlage der Theologie Martin Luthers. Jeder Christ und jede Christin steht unmittelbar vor Gott und muss auch das, was mit aufrichtigem Gewissen getan wurde, vor Gott verantworten. "Die Überzeugung, die du selbst hast, sollst du vor Gott haben." (Röm 14,22) Zwischeninstanzen verwirren nur. Wer sich von Gott gehalten weiß, wird aus Gewissen und Liebe handeln, auch wenn das einen Verstoß gegen Vorschriften bedeutet.
Die Autorin leitet das Institut für Praktische Theologie an der Evang.-Theol. Fakultät, Wien.
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