Die Lokomotive ist der bessere Mensch

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Andrej Platonows Roman "Tschewengur" fiel der Zensur zum Opfer, ist heute Weltliteratur: Es geht um nichts Geringeres als um Wesen und Ziel der Revolution, die letzten Dinge, das Ende der Zeit, die Erlösung der Menschheit vom Fluch der Arbeit und um Unsterblichkeit.

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Andrej Platonows Roman "Tschewengur" fiel der Zensur zum Opfer, ist heute Weltliteratur: Es geht um nichts Geringeres als um Wesen und Ziel der Revolution, die letzten Dinge, das Ende der Zeit, die Erlösung der Menschheit vom Fluch der Arbeit und um Unsterblichkeit.

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Für Joseph Brodsky war Andrej Platonows Roman "Tschewengur" das wichtigste Werk der russischen Sowjetliteratur, Platonow weit bedeutender als Babel, Pasternak und Scholochow, der Roman das Werk eines Genies, in der direkten Nachfolge von Gogol und Dostojewski. Die Tatsache, dass der in den Zwanziger Jahren entstandene Roman erst 1988 in der Sowjetunion erscheinen konnte, komme einer Katastrophe gleich, so Brodsky, weil damit eine der wichtigsten Traditionslinien der russischen Literatur des Zwanzigsten Jahrhunderts abgerissen, verkümmert und damit eigentlich wirkungslos geblieben sei. Der Befund trifft zu, ja mehr noch: 1988 konnte diese Revolutionsparabel ihre Wirkung gar nicht mehr so recht entfalten, weil wenig später schon die nächste Zeitenwende, das Ende der Sowjetunion, sich ankündigte und das Interesse für das kulturelle Erbe der vergehenden Epoche sich ganz allgemein in Grenzen hielt.

Andrej Platonow (geboren als Andrej Platonowitsch Klimentow, 1899 bis 1951) stammte aus sehr einfachen, provinziellen Verhältnissen und war -nach Biographie und Lebenseinstellung -ein durch und durch proletarischer Schriftsteller. Aber die radikalste Affirmation, Nikolaj Gogol ist hier beispielhaft vorangegangen, schafft oft die vernichtendste Kritik. Platonow hat für sein eigenwilliges Werk, das bald schon unter den Bannstrahl der Zensur geriet, zäh und hartnäckig gekämpft. Gorki, der sich für viele verkannte Schriftsteller seiner Zeit einsetzte, musste bei Platonow passen: Dieses Sammelsurium von Typen, Käuzen und Narren, die Verballhornung der kommunistischen Losungen, die eigenwilligen Interpretationen historischer Vorgänge durften nicht ans Licht der Öffentlichkeit. Die bloße Gefahr, die Revolution und ihre Protagonisten der Lächerlichkeit preiszugeben, war völlig außerhalb des Vorstellbaren: Zu Recht, wie sich bald zeigen sollte. "Tschewengur" und Platonows zweites bedeutendes Werk, die Großerzählung "Die Baugrube" blieben ungedruckt. Die Tatsache, dass Platonow 1951 in Armut und Vergessenheit, aber immerhin eines natürlichen Todes sterben durfte, ist vor dem Hintergrund des Stalin'schen Terrors geradezu ein Wunder.

Versuch Kommunismus zu leben

Dabei ist "Tschewengur" alles andere als eine Parodie. Es geht Andrej Platonow, einem Ingenieur und ausgebildeten Kulturtechniker, um die letzten Dinge, um Wesen und Ziel der Revolution, das Ende der Zeit, die Erlösung der Menschheit vom Fluch der Arbeit, und, ja, auch um die Unsterblichkeit: Eine Gruppe von Bolschewiken versucht in der fiktiven russischen Provinzstadt Tschewengur den Kommunismus zu errichten und, was vielleicht viel schwieriger ist, ihn auch zu leben.

Der Leser folgt im wesentlichen den Biographien zweier Personen: Einmal wird von dem Recken Kopjonkin erzählt, der auf seinem Ross Proletarische Kraft durch die Steppe reitet. Das Ziel dieses Sancho Pansas der Revolution ist es, das Grab von Rosa Luxemburg, der großen Liebe seines Lebens, zu erreichen, und bald ist klar, dass ihm der gelebte Kommunismus in Tschewengur zu eng wird. Ihn hält nur sein Gefährte Sascha Dwanow, der ihm die Welt erklärt. Dwanows proletarische Lebenslinie zieht so etwas wie einen roten Faden durch das lockere und bunte Gewebe des Romans.

Zum Erben der großen russischen Romane des 19. Jahrhunderts wird Platonow, weil er ihre Themen aufnimmt und sehr eigensinnig fortspinnt: Was Skandalbereitschaft und Aufgeregtheit der Dostojewski'schen Figuren schon angekündigt haben, realisiert sich hier im Weltskandal "Revolution". Der russische Messianismus zwischen Größenwahn und Minderwertigkeitskomplex kommt ins Spiel: "Zu dieser Zeit verausgabte sich Russland, um allen Völkern den Weg zu beleuchten, sich selbst gönnt es aber kein Licht in den Katen." Die Figur des ewigen Pilgers wird bemüht, des Wanderers, der nichts mehr hat als das, was er am Leib trägt, und den es nirgendwo mehr hält. Das in Russland weit verbreitete Sektierertum wird aufgerufen, allerhand Folkloristisches und auch Abseitiges, wie etwa die Philosophie des Nikolaj Fjodorow, der mit seiner Forderung "Auferstehung für alle!" zeitweise einiges Aufsehen erregte. Dazu eine eigenartige, quasi-erotische Verehrung für alles Technische. Nie wurde eine Lokomotive zärtlicher besungen als in diesem Roman.

Nichts geschieht mehr

Nachdem sich in Tschewengur (nach Vertreibung und Ermordung der Bourgeoisie) sozusagen zwangsläufig der Kommunismus einstellen müsste, erhebt sich die Frage, wie es nun eigentlich weitergeht. Was passiert, wenn die Streichhölzer, die die besitzende Klasse zurückgelassen hat, aufgebraucht sind? Gibt es im Kommunismus überhaupt noch Jahreszeiten? Viel Hoffnung setzen die Bolschewiki von Tschewengur auf die Kraft der Sonne, deren Energie ja schier unendlich ist und die nun irgendwie genützt werden soll. Leider weiß niemand wie. Es kommt zum Stillstand. Keiner will sich zum Anführer machen, das Revolutionskomitee wird aufgelöst. Sie, die ihr Leben lang für die ausbeutende Klasse gearbeitet haben, ruhen jetzt aus. Nichts geschieht mehr. Platonow findet Bilder für die Zeit der Not, die sich einprägen: Ein Greis wird Gott genannt, weil er für sich die Lösung schon gefunden hat. Er hat das Pflügen und Ernten hinter sich gelassen, er isst die Erde "roh" und wird für diese Fähigkeit auch noch bewundert.

Um der Stagnation im Kommunismus abzuhelfen, schicken die Bolschewiki einen der ihren aus, um Frauen in die Stadt zu holen. Sie können die Situation auch nicht retten. Schließlich kommt eine Gruppe Bewaffneter, Platonow definiert sie nicht, aber es ist anzunehmen, es handelt sich um die Rote Armee, und beendet gewaltsam das Experiment des "Kommunismus auf Erden".

Taten, Untaten, Nichttaten

Platonow verzichtet fast völlig auf eine Beschreibung des Äußeren seiner Helden, sie sind ausgezehrt, abgelebt, unbestimmten Alters, Greise oder früh vergreist, kaum bekleidet. Platonow missbraucht seine Helden nicht als Ideenträger, er beschreibt ihre Taten, Untaten und Nichttaten. Er charakterisiert sie durch ihre Sprache. Platonow, von dem es auch einen parodistischen Text mit dem Titel "Antisexus" gibt, beschreibt, was man in pädagogischem Zusammenhang gerne Aufklärung nennt, so: "Du bist schon ein erwachsener Junge und weißt selber alles. Vor allem darf man die Sache nicht vorsätzlich tun -das ist eine ganz trügerische Angelegenheit: Es ist gar nichts da, aber irgendwas scheint dich irgendwohin zu ziehen, irgendwas willst du In jedem Menschen sitzt da unten ein ganzer Imperialismus."

Jeder, der Platonow im Original gelesen hat, wird versichern, dass "Tschewengur" eigentlich nicht zu übersetzen ist. Die Vermischung von Hoch- und Umgangssprache, die Verflechtung mit dem politischen Jargon der Zeit ist so kunstvoll, so komisch und zugleich entlarvend, dass jeder Übersetzungsversuch nur eine schwache Annäherung an das Original bieten kann. Dem muss man widersprechen. Die inzwischen verstorbene Übersetzerin Renate Reschke hat den Roman bereits für die sechsbändige Platonow-Werkausgabe (Verlag Volk &Welt, 1990) übersetzt und ihre Übersetzung im vergangenen Jahr nach einer neueren russischen Ausgabe noch einmal überarbeitet. Sie hat sich damit ein Denkmal gesetzt. Es ist ein kohärenter Text entstanden, der dieses Schlüsselwerk der russischen Literatur des Zwanzigsten Jahrhunderts sicher ins Deutsche übertragen hat. Zum Schluss noch einmal zurück zu Brodsky: Für die Entwicklung der russischen Literatur ist "Tschewengur" vielleicht wirklich sechzig Jahre zu spät gekommen -für Weltliteratur ist es Gott sei Dank nie zu spät.

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