Die Lust am TEXT

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Literatur ist Sprache, "die an ihre Grenze gelangt, aus sich heraus stürzt und explodiert": Vor 100 Jahren wurde Roland Barthes geboren.

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Literatur ist Sprache, "die an ihre Grenze gelangt, aus sich heraus stürzt und explodiert": Vor 100 Jahren wurde Roland Barthes geboren.

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Die schöpferische Freude am Schreiben ist ein Jubel, eine Ekstase, eine Verwandlung, eine Erleuchtung, das, was ich oft als Satori bezeichnet habe, eine Erschütterung, eine Konversion". So emphatisch beschreibt Roland Barthes den kreativen Prozess des Schreibens. In seinen Büchern ereignet sich "der Glanz einer permanenten Revolution der Rede", eine subtile Subversion, die alle traditionellen Klassifikationen der Redeweisen aufbricht. Barthes' Werk ist äußerst facettenreich; er verknüpfte Theorieelemente des Marxismus, des Strukturalismus und der Psychoanalyse und verfasste eigenwillige Texte über Mode, Fotografie, Film, Kochkunst oder die Liebe. Er schrieb über den Genuss von Beefsteak, den Stadtplan von Tokio oder den Dandy. Bei all diesen Aktivitäten vergaß er aber nie auf seinen Körper; wesentlich für ihn war die Körperlust, die mit der "Lust am Text" eine symbiotische Verbindung einging.

Die "Heftigkeit des Barthes'schen Werks"

In einer soeben im Suhrkamp Verlag publizierten Biografie zeichnet die französische Literaturwissenschaftlerin Tiphaine Samoyault ein Porträt des Intellektuellen, der zeit seines Lebens den Common sense bekämpfte; also jene feststehenden Überzeugungen und Vorurteile, auf denen die gängige Kommunikation des Alltagslebens beruht. Samoyault konnte auf ein umfangreiches Material zurückgreifen, das bisher der Öffentlichkeit nicht bekannt war - wie etwa auf große Teile von Barthes' Korrespondenz, auf sämtliche Manuskripte und die Karteien, die er seit den Studienjahren angelegt hatte. Als Leitfäden der Biografie dienten Wörter wie "Sanftheit", Feingefühl" oder das "Zerreißende", die sich kaum mit der kühnen, avantgardistischen Schreibweise des Dichterphilosophen vereinbaren lassen. "Es muss die Heftigkeit des Barthes'schen Werks zur Kenntnis genommen werden", schreibt Samoyault, "die im deutlichen Gegensatz zu seiner Person steht".

Geboren wurde Roland Barthes am 12. November 1915 in Cherbourg. Bereits als Einjähriger verlor er seinen Vater und wuchs in bescheidenen Verhältnissen in Bayonne, später in Paris auf. Er galt als begabtes, sensibles Kind, mit einer engen Mutterbindung, die sein ganzes Leben lang anhielt. "Ich war ausschließlich mit meiner Mutter verbunden", schrieb Barthes in seinem Buch "Über mich selbst","meine Mutter war mein Zuhause". Kurz vor dem Abitur erkrankte Barthes an der Tuberkulose, deren Folgen sein Leben zehn Jahre lang prägten. Das Gefühl der Ausgrenzung war sein bestimmendes Lebensgefühl, das sich auch später nicht mehr auflösen sollte. Nach der Rekonvaleszenz übte Barthes verschiedene Tätigkeiten in Kulturinstitutionen in Bukarest und Alexandria aus und fand Zugang zu Pariser Intellektuellenkreisen. Er befasste sich mit dem Marxismus und setzte sich mit dem Denken von Jean-Paul Sartre auseinander.

Semiologie als Kritik

1953 erschien sein erstes Buch: "Am Nullpunkt der Literatur". Danach arbeitete er auf dem Gebiet der Semiologie - der Wissenschaft von den Zeichen, die der Genfer Sprachwissenschafter Ferdinand de Saussure begründete. Im Gegensatz zu de Saussure, der seine Zeichentheorie auf die Sprache beschränkte, erfuhr die Semiologie bei Barthes eine Erweiterung. In dem Buch "Mythen des Alltags" konzentrierte er sich auf Bedeutungssysteme der Massenkultur wie Nahrung, Kleidung oder Kino und benützte die Semiologie zur Kritik des Alltagslebens. Die Beschäftigung mit den trivialen Alltagsmythen wich einem anhaltenden Interesse an der wissenschaftlichen Methode des Strukturalismus. Es ging dabei um die Frage, ob Strukturen die Lebensweise und Bedeutungssysteme der Menschen bestimmen oder -wie Jean-Paul Sartre meinte - dass der Mensch Herr und Meister der Strukturen sei. Auch hier nahm Barthes eine differenzierte Haltung ein: In dem Essay "Die strukturalistische Tätigkeit" betonte er, dass auch der Strukturalismus "eine gewisse Form der Welt ist, die sich zusammen mit der Welt verändern wird".

Eine Reise nach Japan beendete Barthes "asketische strukturalistische Phase", die vor allem seinem Buch "Die Sprache der Mode" abzulesen ist. In Japan lernte er eine faszinierende Zeichenwelt kennen. Die Eindrücke dieser Reise fanden ihren Niederschlag in dem Werk "Das Reich der Zeichen", das jedoch nicht als konventioneller Reisebericht verstanden werden darf. Der spielerische Umgang mit den Zeichen steht völlig im Gegensatz zur rationalistisch geprägten Sprache der westlich-abendländischen Kultur, die Barthes in seiner Antrittsvorlesung am Collège de France als "faschistisch" bezeichnet hatte. Dagegen setzte Barthes eine Sprache, "die an ihre Grenze gelangt, aus sich heraus stürzt und explodiert". Der Name für solch eine Sprache ist "Literatur". Der Experte für Literatur ist der Semiologe, der sich nicht mit der Reproduktion eines "Diskurses der Überheblichkeit" abgibt, der zum Sagen zwingt, sondern spielerisch mit den Zeichen umgeht. "Der Semiologe wäre im Grund ein Künstler", schreibt Barthes in dem Buch "Lektion","er spielt mit den Zeichen, wie mit einem als solchen erkannten Köder, dessen Verlockung er auskostet, auskosten lassen und begreiflich machen möchte". Der Künstler-Semiologe entfaltet eine Schreibweise, die eine "Lust am Text" erkennen lässt, in die auch körperliche Begehren einfließen. Die Herangehensweise an diese Texte ist weniger von einer Hermeneutik - also von einem Willen zum Verstehen - geprägt, als vielmehr von der Erotik; Schreiben und Lesen sind hier "eine Verknüpfung von Körper und Sprache, nicht von Sinn und Sprache", wodurch sich auch die bisher übliche Trennung von Logos und Eros aufhebt. Die "Lust am Text" wird auch vom Leser empfunden. Der lustvoll Lesende richtet sich nicht nach dem von der Literaturwissenschaft empfohlenen Kanon, sondern entfaltet eine eigene Leseweise, die sich von den Intensitätsmaxima der Lust leiten lässt. Barthes vergleicht die Lust an der Lektüre mit der Bewegung eines Korkens, der auf dem Wasser dahintreibt. Die rational gesteuerte Leseweise, "die den Text als ein intellektuelles Objekt vorstellt" und vom Zwang zur Interpretation bestimmt wird, weicht einer Lektüre, die den Text als Lustobjekt betrachtet.

Akademischer Außenseiter

Der Lehrstuhl für Literatursemiologie am Collège de France, den Barthes 1976 erhielt, war die offizielle Anerkennung eines akademischen Außenseiters, was bei ihm zwiespältige Gefühle auslöste. Ironisch sprach er von der Aufnahme "eines unreinen, unsicheren Subjekts" in einen Tempel der Gelehrsamkeit. Er zählte nun zu den Mandarinen der französischen Intellektuellen, gleichberechtigt mit dem Ethnologen Claude Lévi-Strauss, dem Psychoanalytiker Jacques Lacan und dem Ideenhistoriker Michel Foucault.

Barthes' Buch, "Die helle Kammer", mit dem Untertitel "Bemerkung zur Photographie", war dem Andenken seiner Mutter gewidmet, die 1977 starb. "Was ich verloren habe", so schrieb er, "ist das Unersetzliche". Den Tod seiner vielgeliebten Mutter überlebte Barthes nicht sehr lange. So heißt es in seinem "Tagebuch der Trauer": "Jetzt, da Mam. tot ist, treibt es mich zum Tod". Die Folge war eine tiefgehende Depression, die Barthes nicht mehr bekämpfen wollte. "Depression ist etwas ganz anderes als eine Krankheit", notierte er, "wovon wollen sie mich heilen? Um in welchen Zustand, in welches Leben zurückzukehren? Wenn Trauer eine Arbeit ist, so ist derjenige, der daraus hervorgeht, kein fades, sondern ein moralisches Wesen, ein wertvolles Subjekt - und kein integriertes." Am 26. März 1980 verstarb Roland Barthes in Paris an den Folgen eines Verkehrsunfalls.

Roland Barthes Die Biographie

Von Tiphaine Samoyault Übersetzt von Maria Hoffmann-Dartevelle und Lis Künzli Suhrkamp 2015

871 S., geb., € 41,10

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