Die Macht des GEISTIGEN

19451960198020002020

Zur Potenz Potenzen prägen: Sie helfen dem Menschen, die eigene Begrenztheit zu überwinden und schaffen Reichtum, Wissen und geistige Macht, ganz abgesehen vom biologischen Nachwuchs. Ein FURCHE-Schwerpunkt über den Zauber der Mathematik, den Fluch von Zins und Zinseszins, sowie den neuen Hype um "Potenzmittel" für Mann und Frau. Redaktion: Oliver Tanzer, Martin Tauss

19451960198020002020

Zur Potenz Potenzen prägen: Sie helfen dem Menschen, die eigene Begrenztheit zu überwinden und schaffen Reichtum, Wissen und geistige Macht, ganz abgesehen vom biologischen Nachwuchs. Ein FURCHE-Schwerpunkt über den Zauber der Mathematik, den Fluch von Zins und Zinseszins, sowie den neuen Hype um "Potenzmittel" für Mann und Frau. Redaktion: Oliver Tanzer, Martin Tauss

Werbung
Werbung
Werbung

Es war ein bedrückender Beitrag, der unlängst in einer ORF-Nachrichtensendung zu sehen war: Karim El-Gawhary berichtete aus dem Hinterland Tunesiens, wo Arbeitslosigkeit und fehlende Perspektiven die Menschen aus der Gegend vertreiben. Ein Einheimischer umriss lakonisch die naheliegenden Optionen der Jugendlichen, sinngemäß: "In ihrer Verzweiflung zieht es sie noch mehr zu Terrorgruppen als nach Europa - was ist euch lieber?"

Der militärische Kampf gegen die islamistische Terrormiliz im Nahen Osten wirkt angesichts dessen wie der Tropfen auf dem heißen Stein: Denn die Streitmacht des IS agiert dezentral über das Internet und erhält Zulauf aus aller Welt - gerade auch aus jenen Staaten, deren Kampfjets derzeit IS-Stellungen in Syrien bombardieren. Wie die jüngsten Terroranschläge zeigen, kann die Ideologie des Dschihadismus überall auf fruchtbaren Boden fallen, auch inmitten der europäischen Gesellschaften. Und was wäre gewonnen, wenn der IS zwar militärisch und ökonomisch in die Knie gezwungen wird, aber eine neue Organisation bald ein ähnlich barbarisches Programm fortführt?

Ideologien ohne Grenzen

Ideen und Ideologien kennen keine Grenzen, und sie verbreiten sich im Internet-Zeitalter schneller als der Wind. Ihre Macht übertrumpft mitunter selbst das modernste Kriegsgerät. Der Kampf gegen den Hydra-köpfigen Terror wird daher weniger in den Militärzentralen, sondern vielmehr an der Langzeitfront der Sozialarbeit entschieden. Ohne den Schlüssel der Prävention bleibt der Zugang zur Quelle der Gewalt versperrt. Es gibt keine nachhaltige Lösung, ohne die geistige Disposition zu adressieren, aus der Gewaltbereitschaft erwächst. Das bedeutet, engmaschigen Kontakt zu Risikogruppen herzustellen, um in die Köpfe gefährdeter Personen schauen zu können -und möglichst früh dort anzusetzen, wo die Keime der Gewalt verborgen liegen. Wer akut getroffen wird, verliert das offensichtlich leicht aus den Augen: Schon bald nach den Terroranschlägen in Paris sind französische Kampfjets vom Mittelmeer aus gestartet; eine "Sozialarbeitsoffensive" in den Problemvierteln des Landes aber wurde bislang nicht ausgerufen.

Wo sich nun tatsächlich der Angelpunkt zur Änderung der Verhältnisse befindet, ist eine Frage, an der sich bis heute heftige Debatten entzünden. Dahinter steht ein jahrhundertealter philosophischer Streit: Sind es letztlich geistige Kräfte, die unsere Lebenswelt gestalten, oder sind es umgekehrt die harten materiellen Fakten, die selbst unsere Innenwelt im Griff haben? Auf das eingangs erwähnte Beispiel bezogen: Reicht es, die wirtschaftliche Situation zu verbessern, oder ist es vor allem die Attraktivität der Ideologie, die dem IS Zulauf verschafft?

Fantasie und Vernunft

Für materialistische Denker wie Karl Marx war klar, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, und dass somit die ökonomischen Bedingungen zu ändern seien, um einen "neuen Menschen" hervorzubringen. Das war die radikale Abkehr von einer Philosophie, die stets dem geistigen Prinzip den Vorrang gab und die gerade im deutschen Sprachraum wirkmächtig geworden ist: Hatten doch die Vertreter des Idealismus die absolute Freiheit und geistige Schöpfungskraft des Menschen betont. Philosophen wie Johann Gottlieb Fichte waren davon überzeugt, dass der menschliche Geist die Dinge bestimmt und auch hervorbringt; romantische Dichter wie Novalis ließen sich davon inspirieren und machten die Poetisierung der Welt zum Programm.

Das schillernde Reich des Fantastischen ist die eine Speerspitze des menschlichen Geistes, ihm gegenüber steht der Leuchtturm der Rationalität, die Strahlkraft der kritischen Vernunft. Das Denken ist seit jeher die schärfste Waffe des Menschen, und Wissen ist bekanntlich eine Form von Macht. Wenig verwunderlich also, dass viele Machthaber in der kritischen Intelligenz jeweils die größte Bedrohung gesehen haben. Es sind die Intellektuellen, denen es in totalitären Systemen oft als erstes an den Kragen geht - auch wenn dies nicht immer so weit geht wie unter der Schreckensherrschaft von Pol Pot, der im Kambodscha der 1970er-Jahre die geistige Elite des Landes radikal auszurotten trachtete. Wer im Bauernstaat eine Brille trug, galt per se als "Geistesmensch"; sein oder ihr weiteres Schicksal war damit festgelegt.

Schließlich zeigt sich auf einer lebenspraktischen Ebene, wie sehr psychische Faktoren unsere Realität determinieren. Wir nehmen die Welt stets durch die Brille unserer geistigen Verfassung wahr: Ein und derselbe Schmerzreiz wird bei einem depressiven Menschen zu einer größeren Irritation führen als bei euphorisch gestimmten Personen. Erscheint die Welt im einen Fall trist, grau und hoffnungslos, so steckt sie im anderen Fall voller Reize und Möglichkeiten. Negative Emotionen wie Angst können unseren Handlungsspielraum erheblich verengen, positive Gefühle hingegen steigern die Flexibilität und strategische Kompetenz des Geistes. Die Dinge erscheinen im Licht unserer "Wahrnehmung" - oder sollte man hier nicht besser von "Wahrgebung" sprechen?

Einsichten der Quantentheorie

Dass die Rechnung letztlich nicht ohne den Geist zu machen ist, verdeutlicht selbst die moderne Naturwissenschaft, die sich den Kriterien strengster Objektivität verpflichtet hat. Die Quantenmechanik hat gezeigt, dass es keine vom Beobachter unabhängigen Phänomene gibt oder, anders ausgedrückt, das Ergebnis des Experiments von der Art der Fragestellung abhängig ist. Der Beobachtungsvorgang nimmt Einfluss auf das Beobachtete, der geistige Prozess ist somit aus der physikalischen Realität nicht wegzudenken. Bewusstsein durchdringt und prägt die materielle Welt. Ist es das, worauf sich die ersten Verse des "Dhammapada", einer jahrtausendealten buddhistischen Schrift, beziehen? "Vom Geiste geh'n die Dinge aus, sind geistgeboren, geistgefügt", heißt es dort (Übersetzung H. Hecker).

Dass unser Leid und Wohlergehen letztlich im Geist besiegelt werden, wird in spirituellen Traditionen oft betont. Diese Einsicht ist umso wichtiger, je dünner die Decke der Zivilisation gerade erscheint. "Achte auf deine Gedanken, denn sie werden zu Worten", heißt es in einem Zitat, das meist dem Talmud zugeschrieben wird. Worte werden demnach zu Handlungen, diese zu Gewohnheiten, diese wiederum zum Charakter, der letztendlich zum Schicksal wird. Dies gilt für Individuen und Kollektive gleichermaßen -der moderne Leitbegriff einer frühzeitigen Prävention wird hier bis in die geistige Sphäre rückgeführt.

Der Geist ist demnach wie ein Garten, den es zu bestellen, zu pflegen und zu kultivieren gilt. Geistige Hygiene ist nicht minder wichtig wie das tägliche Zähneputzen. Dass sie noch weit nicht so selbstverständlich ist, offenbart die materialistische Fixierung unserer gegenwärtigen Kultur.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung