Die Meister des Erzählens kommen

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Peter Bichsel und Josef Winkler bescherten den Rauriser Literaturtagen eine jener Sternstunden, auf die man lange warten muß.

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Peter Bichsel und Josef Winkler bescherten den Rauriser Literaturtagen eine jener Sternstunden, auf die man lange warten muß.

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Wie entstehen aus Mogeleien Wahrheiten, was passiert, daß aus Erfundenem etwas Gültiges wird, das dem Leser unter den Nägeln brennt, das ihn unmittelbar und dringend angeht? Die Erzähler hatten in Rauris, wo zum 29. Mal Literaturtage stattfanden, ihren Auftritt, und um das Publikum mußten sie sich nicht sorgen. Es kam in Scharen und wurde nicht enttäuscht. Es gab wunderbare Auftritte erstaunlicher Autoren, Leseabenteuer von Magiern ihres Fachs. Authentizität ist ein schaler Begriff, Literatur sucht nämlich mit den nur ihr eigenen Mitteln dies zu unterlaufen. Sie setzt auf Phantasie, auf die Macht der Sprache und die Kunst, Haken zu schlagen. Ein Erzähler ist kein Plauderer, er fabuliert mit Bedacht, stellt neue Zusammenhänge her und baut an einem Gebäude, aus dem heraus sich dem Leser erstaunliche Blicke auf die Wirklichkeit bieten.

Als Josef Winkler und Peter Bichsel gemeinsam an einem Abend lasen, war das eine jener Sternstunden, auf die man lange warten muß. Es sei ein windiges Gewerbe, das er betreibe, meinte Peter Bichsel in einem Gespräch mit Brita Steinwendtner, der Leiterin der Rauriser Literaturtage, er stückele sich seine Literatur aus Fragmenten zusammen, die ihm seine Erfahrung biete. Seine Mutter sei als Kind von einem Hund gebissen worden, in seinem jüngsten Buch "Cherubin Hammer und Cherubin Hammer" (Suhrkamp) schreibt er davon. Es sei eine schreckliche Vorstellung, sagte Bichsel, daß sich eines Tages alle Menschen, bei denen er Anleihen für die Figuren seiner Bücher genommen habe, zu einer Sammelklage entschließen könnten. Das würde für ihn fürchterlich enden.

In seinen Büchern erzählt Bichsel Lügengeschichten, die ein bißchen davon freilegen sollen, was den Menschen zum Menschen macht, was ihn umtreibt und antreibt, wie er sich gegen die Ansprüche der kollektiven Wirklichkeit seine individuelle Freiheit mit all ihren Phantasien zu retten versucht. In seinem jüngsten Buch erfindet er eine Biographie, um sie in einer in Fußnoten erzählten Gegengeschichte in Frage zu stellen. Bichsel liest charmant und bedächtig, er hat es faustdick hinter den Ohren. Er wiegt einen in Sicherheit, führt uns in sein Reich, lächelnd, friedfertig, man hört ihm zu, er hat etwas zu erzählen, und dann läßt er uns mit Biographien von Gescheiterten und Unglücklichen allein. Der Sprengkitt verbirgt sich zwischen den Zeilen.

Ganz anders Josef Winkler! Er ist getrieben von einer Obsession, sie läßt ihm keine Ruhe, an ihr arbeitet er sich ab, damit kommt er an kein Ende. Sein Buch "Wenn es soweit ist" (Suhrkamp) versammelt Todesbilder aus der österreichischen Provinz, beklemmend und sprachlich suggestiv.

Ludwig Harig rechnete ab mit seiner Vergangenheit. Literatur dient der Selbstreflexion und Läuterung. Harig rechtfertigt sich nicht, er sieht sich als Täter, der weiß, daß er schuldig geworden ist. Literatur kann nichts wieder gut machen, aber sie macht bewußt, was geschehen ist. Als Spezialist der Macht schreibt Thomas Hürlimann. Er zeigt, wie Macht entsteht und wo sie hinführt, er ist einer von jenen, der, wenn er liest, die Hörer in Bann schlägt.

Und sonst? Bei Gerhard Amanshauser lernt man das Vergnügen des Querdenkens und entdeckt dessen Nutzen, bei Walter Kappacher sieht man mit Staunen, wie Literatur und Leben ineinander übergehen, beim Algerier Mohamed Magani erhält man Einsichten in ein vom Frieden verlassenes Land. Der Rauriser Literaturpreis, der jährlich vergeben wird für das beste Prosadebüt, ging diesmal an den Schweizer Peter Stamm und seinen Roman "Agnes" (Arche Verlag).

Am Samstag abend erlebte eine junge Rauriserin ihren großen Auftritt. Ihr Theaterstück "Nacht", ein soziales Drama mit dem Hang zur Erschütterung des Zusehers, wurde in der Inszenierung von Lutz Hochstraate zur Uraufführung gebracht.

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