Die Mitte liegt im Osten

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Gut 80 Orte erheben den Anspruch, der Mittelpunkt Europas zu sein. Wolfgang Bahr hat drei von ihnen besucht.

Wer im Internet recherchiert, kommt aus dem Staunen nicht heraus, wie viele Staaten, Regionen und Städte mit dem Begriff der Mitte operieren. So dekretiert www.polen.gov.pl unter "Wissenswertes": "Polen liegt in der Mitte Europas. In der Nähe von Warschau befindet sich der geometrische Mittelpunkt Europas." Unschuldig gibt sich Potsdam, das laut Oberbürgermeister Jakobs "ohne unser Zutun geografisch eine Stadt in der Mitte des Kontinents" sei, kämpferisch hingegen die Region Piemont, die "entschieden hat, eine auch geographisch zentrale Rolle einzunehmen". Der Mitte zugeordnet werden so weit auseinander liegende Gegenden wie Nordirland und das Seklerland in Rumänien.

Angesichts dessen erstaunt es, in welch geringem Ausmaß Österreich auf seine Position in der Mitte pocht. Auch die eu-Ratspräsidentschaft ist weitgehend ohne Mitte-Rhetorik ausgekommen, offensichtlich ist das Mittesein mittlerweile so selbstverständlich, dass man es nicht mehr forcieren muss. Nach dem Krieg war das anders, da musste Österreich in der Bundeshymne nach seinem Herzstillstand als "starkes Herz" apostrophiert werden. Heute ist es der Bundeshauptstadt vorbehalten, sich einen "Bahnhof Wien - Europa Mitte" anzumaßen und sich in einer Region "Centrope" Pressburg, Brünn und Raab einzuverleiben. Außerhalb Wiens scheint es nur in Braunau eine konkrete Mittelpunkt-Tradition zu geben - sie geht auf einen angeblichen Ausspruch Napoleons zurück, doch auf den Korsen beruft sich auch Waldsassen in Bayern ...

Bernotai - Litauen

Auf einer weitaus solideren Basis ruhen die Ansprüche Litauens, das im Ringen um den geografischen Mittelpunkt Europas alle Konkurrenten klar ausgestochen hat. Sie stützen sich auf die Berechnungen des Institut Géographique National in Paris, das im Jahr 1989 den Mittelpunkt 26 Kilometer nördlich von Vilnius eruiert hat. Die litauische Unabhängigkeitsbewegung, später dann der Fremdenverkehr griffen die Berechnung auf, um mit der irritierenden Feststellung, der Mittelpunkt befinde sich so weit im Osten, auf sich aufmerksam zu machen. Unverwechselbar jedoch wurde der litauische Mittelpunkt Europas erst durch die Privatinitiative eines Künstlers, der die Theorie mit Leben füllte.

Das "Europos Centras" bei PurnusÇk.es, genau genommen bei Bernotai, zelebriert den Beitritt Litauens zur Europäischen Union und, in verkappter Form durch eine in den Boden eingelassene Windrose, zur nato. Die Republik hat sich in Unkosten gestürzt und einen Festplatz mit den Flaggen der eu-Mitgliedsländer sowie eine Granitsäule mit einem goldenen Sternenkranz errichten lassen. Ein freundlicher Beamter stellt einem eine Besucherurkunde aus und rund um das penibel gepflegte Gelände wird gerade ein Golfplatz errichtet.

Ganz anders der etliche Kilometer entfernte "Europos parkas", mittlerweile eines der bedeutendsten Freilichtmuseen zeitgenössischer Kunst und eine Hauptsehenswürdigkeit Litauens. Sein Schöpfer, der erst 38-jährige Gintaras Karosas, vermochte nicht nur Künstler von Weltrang wie Dennis Oppenheim und Sol LeWitt für Entwürfe zu gewinnen, sondern auch Sponsoren für die Realisierung der teilweise gigantischen Objekte. Sein eigenes Mittelpunkt-Monument übt sich in Demut: Um eine niedrige Pyramide kreisen in weitem Abstand in die Wiese eingelassene Steinplatten, die die Entfernung zu sämtlichen europäischen Hauptstädten angeben. Feine Ironie: In Kilometern gemessen ist Minsk am nächsten gelegen, ideologisch aber am weitesten entfernt.

Für den bildenden Künstler und Landschaftspfleger Karosas, dessen Großvater emigrieren musste und dessen Vater mit 14 Jahren nach Sibirien deportiert wurde, ist Europa ein Herzensanliegen, vor allem aber ein Aufruf zu Kreativität und zur Übernahme von Verantwortung. So wie in dem weiten Parkgelände eine Balance zwischen Natur und Kunst gesucht werde, so sollten auch Selbstbewusstsein und Kosmopolitismus im Einklang stehen: "Ein Nationalismus, in dem man sich für besser hält als die anderen, ist absurd, recht verstandene nationale Identität hingegen kann Menschen progressiv machen."

Kremnické Bane - Slowakei

Lässt schon Gintaras Karosas an den im Trott des alten Regimes fortfahrenden Behörden und an den einem wilden Kapitalismus ergebenen Karrieristen in Politik und Wirtschaft kein gutes Haar, so zeigt sich Ján Priwitzer, seineszeichens Bürgermeister von Kremnické Bane in der mittleren Slowakei, vollends enttäuscht. Als Vladimír MecÇiar das Land in die Unabhängigkeit führte, schien sich für den Ort eine große Zukunft anzubahnen. Neben der alten Johanneskirche, die der Legende nach auf das Geheiß von Engeln an ihrer jetzigen Stelle errichtet worden war, damit sie "mehr in der Mitte" sei, wurde ein Gedenkstein aufgerichtet, der wie die Säule in Litauen den nationalen Aspekt betont. Ein Podium aus Natursteinen wurde hinzugefügt, von dem die Kulturorganisation Matica Slovenská alljährlich eine "Weihnachtsbotschaft aus der Mitte Europas" aussandte, und zum 1. Mai 2004 wurden auf einem Hügel zehn Linden gepflanzt, für jedes Beitrittsland eine.

Doch der Grundstein für einen Park der Auslandsslowaken ruht im Büro des Bürgermeisters, und auch für den Ausbau der Infrastruktur - nur in der Nachbargemeinde Krahule gibt es ein bescheidenes "Hotel Stred Europy" - ist kein Geld aufzutreiben. Paradoxerweise scheint der Regierungswechsel zur europafreundlichen Koalition von Ministerpräsident Dzurinda das Einschlafen des Projekts bewirkt zu haben. An einem "Templum Europae" der Freimaurer wiederum, dessen in Aussicht genommenen Bauplatz ein weißer Stein markiert, hat die katholische Kirche kein Interesse, die hier in den Neunzigerjahren, mit Unterstützung aus Österreich, ein Kapuzinerkloster errichtet hat.

Der weltoffene Pater Guardian spannt im Gespräch einen Bogen von den Tatareneinfällen bis zum eu-Beitritt und hat für den Mittelpunkt Europas eine prosaische Erklärung parat: Sie sei italienischen Landvermessern zu verdanken, die zum Bahnbau auf den "slowakischen Semmering" kamen. Er vergisst auch nicht das friedliche Zusammenleben von Deutschen und Slowaken in dieser Gegend zu erwähnen - bis heute werden beim Sonntagsgottesdienst auch deutsche Lieder gesungen, und Bürgermeister Priwitzer, selbst einer der letzten deutschen Hauerländer, versieht Mesnerdienste.

HavlícÇkuÚv Brod - Böhmen

Eine deutsche Vergangenheit hat auch HavlícÇkuÚv Brod in Böhmen. Das einstige Deutsch Brod gedenkt heuer des 150. Todestags seines nunmehrigen Namensgebers Karel HavlícÇek-Borovsky´. Die Wohnung am Stadtplatz, aus der der Ahnherr der tschechischen Publizistik von der österreichischen Polizei nächtens nach Brixen deportiert wurde, ist zu besichtigen, HavlícÇeks "Tiroler Elegien" zählen bis heute zum Kanon des tschechischen nationalen Schrifttums.

Literarisch angehaucht ist auch der dortige Mittelpunkt Europas, und die Pressesprecherin der Stadt steht nicht an, "Sinn für Humor" als ausschlaggebend für die örtlichen Ambitionen anzugeben. Da man die althergebrachte Rede von Brod als Mittelpunkt Europas nicht habe deuten können, habe man sich "an die letztmögliche Instanz, den Nachlass Jára Cimrmans" gewandt. Die Verwalter dieses fiktiven Nachlasses eines fiktiven Dichters im Prager Cimrman-Theater bestätigten, ein solcher Ort befinde sich "bei Brod". Da Brod Furt bedeutet, suchte man am Ufer der Sázava weiter und fand dort eine gläserne Kugel ...

Die Kugel wurde in eine hölzerne Maquette gefasst und wird von der Bürgermeisterin aufbewahrt, um sie bei besonderen Anlässen zur Schau zu stellen. Jederzeit zugänglich ist hingegen ein Denkmal inmitten eines kleinen Labyrinths beim Kaffeehaus "U notárÇe", ein riesiger Trichter, in dem das Wasser auf den gedachten Mittelpunkt Europas zufließt. Die rollende Kugel, das Labyrinth, der Trichter: Chiffren für ein Europa, das man schwerlich in Koordinaten zwingen kann, ist es doch, so der Titel eines Objekts von Magdalena Abakanowicz im Europos Parkas, ein "Raum unbekannten Wachstums".

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