Die Motive der Mörder

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Der Aufreger des Bücherfrühlings: Jonathan Littell hat die fiktive Autobiografie eines SS-Obersturmbannführers geschrieben. Wozu eigentlich?

Die Zeitzeugen der "großen Barbarei" (Adorno) werden immer weniger, je weiter die Zeit des Nationalsozialismus zurückliegt. In etlichen Jahren wird man niemanden mehr befragen können, der sie erlebt hat, niemanden mehr in die Schulen oder zu Gedenkfeiern bitten können, und die Diskussionen werden nur noch von Nachgeborenen geführt werden, die ihr Wissen aus Büchern oder vom Hörensagen haben. Irgendwann wird der Nationalsozialismus "kalte" Geschichte werden - wie der Erste Weltkrieg oder die Revolution von 1848.

Und in der Literatur wird die NS-Zeit sozusagen "frei verfügbar", Stoff für reine Fiktion. Imre Kertész, der als Fünfzehnjähriger nach Auschwitz kam, und Ruth Klüger, die als Kind mit ihrer Mutter dort war, haben die Konzentrationslager noch einmal aus dem eigenen Erleben literarisch gedeutet und erlebbar gemacht - Kertész im autobiografischen "Roman eines Schicksallosen" und Klüger in der Autobiografie "weiter leben". Sie sind vermutlich die letzten. Jorge Semprún, der seit seinem Roman "Die große Reise" das Thema immer wieder gestaltet hat und im Dezember 85 Jahre alt wird, befürchtet, dass der Nationalsozialismus die nachkommenden Autoren nicht mehr interessieren wird.

NS-Zeit - Stoff für Fiktion?

Dass das nicht so schnell passieren wird, zeigt der Mega-Roman "Die Wohlgesinnten" des vierzigjährigen amerikanisch-französischen Autors Jonathan Littell. Das Buch ist der große Hype dieses Frühlings, hat es sich doch in Frankreich etwa 800.000 Mal verkauft und die bedeutendsten Literaturpreise eingeheimst. Also war die Lizenz entsprechend teuer - 450.000 Euro hat der Berlin Verlag zugegeben -, daher musste die Werbemaschinerie auf Hochtouren gebracht werden. Und Medien wie Die Zeit, die Neue Zürcher Zeitung oder der Spiegel haben dem Buch schon bei seinem Erscheinen im Februar mehrere Beiträge gewidmet.

Littell hat etwas ganz Neues gewagt: Er hat seinen Roman aus der Perspektive eines Täters geschrieben, als fiktive Autobiografie des SS-Obersturmbannführers Max Aue. Dieser Aue ist überall, wo man sein muss, um so etwas wie ein Totalbild des Dritten Reiches entwerfen zu können: bei den schrecklichen Massakern in der Ukraine wie in Auschwitz, im Kessel von Stalingrad wie in den Berliner Zentralen. In seiner in der deutschen Übersetzung fast 1400 Seiten langen Endlos-Erzählung gibt es Momente des Schreckens, die man nicht so schnell vergisst, etwa wenn ein jüdisches Ehepaar seine beiden Kleinkinder in den Armen hält und der Mann zu dem deutschen Henker sagt: "Ich bitte Sie, mein Herr, wenn Sie die Kinder erschießen, machen Sie es ordentlich."

Doch insgesamt war es eine schlechte Entscheidung, nur auf die Perspektive dieses SS-Mannes zu setzen. Vor allem, weil seine Sprache nicht über die riesige Textstrecke trägt. "Der Text soll Blöcke bilden, Blöcke, die den Leser ersticken und denen er sich nicht so einfach entziehen kann", schrieb Littell an seine Übersetzer, wie einem Materialienband zu entnehmen ist. Aber die Rede Max Aues entfaltet nun einmal nicht den Sog der Thomas Bernhardschen Endlos-Sätze - und würde sie es tun, wäre Aue als Figur unglaubwürdig; auch wenn er ein hochgebildeter Edel-Nazi ist, der zwischen Herodot und Stendhal so ziemlich alles zitieren kann. Und so stumpft man unweigerlich bei der schweren Mühe des Lesens ab über den Leichenbergen und den detailgenau gezeichneten Schrecken der Massenexekutionen, durch die man gejagt wird.

Außerdem hat Aue eine so "exklusive" Biografie, die aber nichts dazu beiträgt, den Nationalsozialismus zu verstehen, sondern seine Wahrnehmung ständig überlagert. Es ist eine Geschmacksfrage, ob man sich mehr vor den vielen Verdauungsphantasien und Exkrementenbeschreibungen ekelt oder vor der Vulgärpsychologie, die seitenlang Träume aufeinandertürmt. Max Aue hat ein inzestuöses Verhältnis mit seiner Zwillingsschwester, ist homosexuell, weil er sich mit ihr identifiziert, und tötet die eigene Mutter und deren zweiten Mann. Das rührt daher, dass Jonathan Littell, bescheiden wie er nun einmal ist, nicht nur das Nazi-System in der Totale zeigen, sondern auch noch die Orestie des Aischylos in modernem Gewand auf die Bühne stellen will. Ohne ständig herbeizitierte Hintergründe aus der Weltliteratur tut es ein postmoderner Autor, der auf sich hält, eben nicht.

Orestie und Filmkomödie

Aus der Orestie erklärt sich auch der Titel: die "Wohlgesinnten", die Erinnyen, sind zwei Kriminalpolizisten, die Aue des Muttermordes überführen wollen. Ihrem Auftreten vor allem ist es zu verdanken, dass das Buch gegen Ende in eine Trash Comedy kippt. Während die Rote Armee schon heranrückt, liefern die beiden Aue in den Berliner U-Bahn-Schächten eine filmreife Verfolgungsjagd. Und auch Aue selbst kippt aus seiner Realität: Im Führerbunker noch in den letzten Tagen groß ausgezeichnet, beißt er Hitler einfach in die Nase.

Max Aue, die fiktive Figur, ist hineingestellt in so viel dokumentarisches Material, dass man geradezu in den Stoffmassen ersäuft. Die realen Figuren sind kaum gestaltet: Der Bürokrat Eichmann ist eben so, wie man ihn aus Hannah Arendts Prozessbericht "Eichmann in Jerusalem" längst schon besser kennt, Heinrich Himmler ist jener Reichsführer-SS, wie man ihn schon in Filmen gesehen hat, Auschwitz-Kommandant Rudolf Höß ist quellengenau nachgezeichnet, und was man über Odilo Globocnik liest, stimmt mit den Lexikoneinträgen über ihn überein. Man fragt sich nur, warum man dann nicht gleich das Buch eines NS-Historikers liest. Denn die wenigen erfundenen Figuren - der fette, Katzen streichelnde Dr. Mandelbrot etwa, der die Nazis finanziell unterstützt - sind platt und überflüssig.

Was einen bei der Lektüre oft aus der Bahn wirft, sind die vielen Fehler, die der Autor begeht. So soll, wie aus den Überschriften, aber sonst leider nirgends hervorgeht, der ganze Roman als Suite komponiert sein. Doch den Sätzen Allemande, Courante, Sarabande, Menuett, Air und Gigue ist eine Toccata vorangestellt, die mit einer Suite ganz gewiss nichts zu tun hat - undenkbar, dass dem Bach-Kenner Max Aue so eine Dummheit unterläuft; sie geht auf das Konto des Autors. Etliche Argumente - Aue meint, die Nazis hätten sich die Ausrottung der Indianer in Amerika als Vorbild ihrer Politik genommen - sind ebenso anachronistisch wie die Sprache an vielen Stellen, etwa wenn Aue ein "repressives katholisches Milieu" konstatiert. Und erzähltechnisch völlig unglaubwürdig ist, dass Aue nach Jahrzehnten lange Dialogfolgen wortwörtlich wiedergeben kann. Dass die Sprache der Täter gelegentlich schlecht getroffen ist, ist wahrscheinlich dem Lektorat der deutschen Übersetzung zuzuschreiben.

Bleibt noch die Frage: Für wen erzählt Max Aue? Für sich selbst, um sich klarer zu werden, wie er gleich auf der ersten Seite behauptet, oder für die Leser, die er in enervierender Häufigkeit anspricht? Und vor allem: In welcher Absicht ist das Buch geschrieben? Kein Zweifel, Max Aue relativiert den Holocaust, spielt die NS-Gräuel herunter. Will der Autor das aus den Angeln heben oder verständlich machen? Da der Roman ganz auf die Perspektive Max Aues konzentriert ist, kann man die Intention des Autors eigentlich nur aus seinen Kommentaren und Interviews erschließen. Littell haben die Motive der Leute, die töten, fasziniert. In längeren Aufenthalten in Bosnien wie in Tschetschenien hatte er Gelegenheit, sie zu studieren und das Umkippen einer Kultur in Barbarei aus nächster Nähe zu studieren. Offenbar will er die Gräuel der Gegenwart mit Blick auf den Holocaust verstehen. Aber ist nicht schon das eine unerträgliche Relativierung des Holocaust, wenn man etwas mit ihm erklären will?

Holocaust relativiert?

Wer sich durch Littells Roman durchquält, erfährt einiges hautnah: Dass Bildung nicht immunisiert gegen das verordnete Morden, dass der leidenschaftliche Wunsch nach dem Absoluten in die Gewalt führen kann, dass das Morden die Täter zusammenschweißt, dass es verschiedene Tätertypen gegeben hat und dass absurde Bürokratie und strikte Hierarchien bis in die letzten Tage des Dritten Reiches funktioniert haben … All das wusste man schon vorher oder hätte es wissen können. Und die Innenperspektive des Täters zeigt keinen neuen Blick auf die Fakten.

Fazit: Wer dieses Buch nicht liest, spart viel Zeit. Wer es nicht kauft, setzt ein Zeichen, dass ein Medienhype allein nicht genügt, um ein Buch zum Verkaufserfolg zu machen, sondern Qualität auch noch eine Rolle spielt. Und wenn die Kritik jemanden vom Kauf abhält, dann hat Kritik noch einen Sinn. Das negative Urteil ist aber nicht darin begründet, dass Naziherrschaft und Holocaust nicht Stoff von Fiktion sein könnten und sich die Nachgeborenen nur an die Fakten zu halten hätten. Sondern darin, dass Littell eine Mischung aus Dokumentarischem, plumper Fiktion und literarischen Anspielungen zusammengekleistert hat, die nirgendwo hinführt.

DIE WOHLGESINNTEN

Roman von Jonathan Littell

Aus dem Franz. v. Heiner Kober.

1388 Seiten, geb., € 37,10

DIE WOHLGESINNTEN

Marginalien von Jonathan Littell

Mit Beiträgen v. Jürg Altwegg, Claude Lanzmann u. a. 102 S., kart., € 5,20

Beide: Berlin Verlag, Berlin 2008

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