Die Motive des 20. Juli

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Wie sich Konservative mit antisemitischen Vorurteilen spät, aber doch gegen Hitler verschworen.

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Wie sich Konservative mit antisemitischen Vorurteilen spät, aber doch gegen Hitler verschworen.

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Sie verstanden sich als Elite ihres geliebten Deutschland, verachteten die Weimarer Republik, den Versailler Friedensvertrag, den ungebildeten Emporkömmling Adolf Hitler, den Bolschewismus und viele von ihnen auch die Juden. Die Attentäter vom 20. Juli 1944, die Hitler mit einer Bombe zu töten versuchten, unternahmen den verzweifelten Versuch, Deutschlands "Ehre", oder was davon noch übrig schien, zu retten.

Als Verräter denunziert, in Schauprozessen abgeurteilt, grausam exekutiert, wurden sie Helden des befreiten Deutschland. Kein politischer Festakt, bei dem nicht ihre moralische Bedeutung gewürdigt wurde. Nur die DDR-Geschichtsschreibung blieb skeptisch gegenüber den "konservativen Wehrmachtsoffizieren und Staatsbeamten", die sich "erst gegen das Regime erhoben, als ihre privilegierte Stellung in der Klassenhierachie bedroht war."

Für den englischen Historiker Theodore S. Hamerow, 1920 in Warschau geboren, emeritierter Professor der University of Wisconsin, steht der Respekt für die mutige Tat der Verschwörer außer Streit. Ihre Motive werden seiner Ansicht nach aber oft falsch interpretiert. In seinem Buch "Die Attentäter" zeichnet er aufgrund zahlreicher authentischer Berichte, Protokolle und Briefe ein vielschichtiges Bild der führenden Köpfe des Widerstandes, die sich von überzeugten Nationalsozialisten zu kritischen Mitläufern und nur zögernd zu Kritikern des Regimes und schließlich Verschwörern entwickelten.

Eliten für Hitler Am Anfang gab es von den hohen Militärs, Spitzenbeamten und Kirchenvertretern, die sich später im Widerstand zusammenfanden, breite Zustimmung und Hoffnung auf die "positiven Kräfte des Nationalsozialismus". Viele waren Adelige, seit Generationen "im Dienst des Vaterlandes", voll nationalem Stolz und Misstrauen gegen die "Massendemokratie". Nach dem ersten Weltkrieg war das Erstarken des geschlagenen Deutschland ihr wichtigstes Anliegen. Dieser Zweck schien ihnen die Mittel Hitlers lange zu heiligen.

Militärs wie General Ludwig Beck oder Henning von Tresckow hofften nach dem als zutiefst ungerecht empfundenen Versailler Frieden, der Ausbildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten in der Armee drastisch beschränkte, auf den militärischen Aufschwung. Mitglieder der Beamtenschaft wie Carl Goerdeler, Fritz-Ditlof von der Schulenburg oder der Finanzexperte Popitz wollten nicht länger von "Parteibonzen" abhängig sein und beschworen "preußisches Beamtentum". "Autoritär, entschlossen und diszipliniert" müsse eine neue Führungspersönlichkeit sein, die eine "große nationale Wiedergeburt" ermögliche. Sie sahen Hitlers Ernennung zum Kanzler als Niederlage für die "Mächte des Judentums, des Kapitals und der Kirche".

Viele Vertreter der evangelischen und katholischen Kirche suchten nach den "verlorenen Werten" und fanden sie in der Nazi-Bewegung, die manche enthusiastisch begrüßten. Die Gefahr des "allzu nüchternen Rationalismus", das "Fehlen eines großen Zieles, das die Voraussetzung für echtes völkisches Wollen und Handeln" bilde, wurde beklagt. "Mit Hilfe der Nazis würden christlicher Glaube und christliche Werte die Kräfte des weltlichen Rationalismus überwinden." Die Wahl zwischen "einer korrupten Demokratie und einer rechtschaffenen Diktatur" falle nicht schwer, begrüßte der evangelische Bischof Theophil Wurm den Nationalsozialismus, den er später angesichts des Mordes an den Juden vehement kritisierte. Auch beim anfangs äußerst kritischen katholischen Bischof Galen vollzog sich ein Sinneswandel. Mit der Machtergreifung Hitlers wurde er zum glühenden Befürworter, da "die Zeit des Mammonismus und Marxismus" vorbei und endlich das "freie Wirken der Kirche und ihr heiligender Einfluss für die Erziehung der Jugend" zum Tragen komme. Später wandelte sich seine Begeisterung zu lauter Kritik, die allerdings durch taktische Überlegungen und mangelnde Sensibilität für das Schicksal der Juden diplomatisch so verklausuliert war, dass sie Hitler leicht ignorieren konnte.

Antisemiten gegen Hitler Nationalistisch und antidemokratisch gesinnt, begrüßten viele spätere Widerständler also den Aufstieg der Nazis, obwohl sie vom "Emporkömmling" wenig hielten. Gehörte er doch keiner ihrer Eliten an. Seine Rhetorik klang ihnen überspannt, seine Programme utopisch. Sie hofften, dass er mangels Erfahrung als Staatsmann gezwungen sein würde, Fachleute aus Militär und Verwaltung zu Rate zu ziehen. Es ging also auch um die Hoffnung, den jeweiligen Einflussbereich auszubauen und Gleichgesinnte in wichtige Positionen des öffentlichen oder militärischen Lebens zu bringen. Canaris, Beck, Stauffenberg - alle begrüßten trotz ihrer Vorbehalte, sich als Offiziere einem ehemaligen Gefreiten unterzuordnen, den sie im privaten Kreis schon mal als "Psychopathen" bezeichneten, die NS-Bewegung "uneingeschränkt". Hitler schien ihnen als Instrument zur Durchsetzung eigener Interessen bestens geeignet, über die eine oder andere "Entgleisung" sah man diskret hinweg. Nationaler Stolz, die militärischen Anfangserfolge und die Aufbruchsstimmung, die Hitler in der Bevölkerung entfachte, trübte ihren Blick.

Einig war man sich auch in der "Judenfrage". Lang bevor Hitler die "Endlösung" anordnete, beklagten die Führungskräfte fast einhellig die "parasitäre, ausbeuterische Rolle des Finanzjudentums in der Wirtschaft" und die "abhängige Presse", die antideutsche Propaganda im Ausland betreibe. Der evangelische Bischof Martin Niemöller, der später selbst im Konzentrationslager landete, räumte ein, dass ihm "die Juden unsympathisch und fremd" gewesen seien. Der katholische Münchner Bischof Michael Faulhaber betonte, "dass die Kirche größere Sorgen habe, als gerade das Schicksal der Juden", weil er schon 1933 um die Autonomie der kirchlichen Entscheidungen fürchtete und sie durch Stillhalten in dieser "brenzligen" Frage zu erhalten hoffte. Admiral Wilhelm Canaris, der an ein Nebeneinander von "Ariern" und "Nichtariern" nicht glaubte, schlug 1935/36 die "Trennung der beiden Rassen" als Ideallösung vor. Nichtarier sollten in den 1919 von Frankreich und England "geraubten" Kolonien angesiedelt, die verbleibenden mit einem Davidstern gekennzeichnet werden. Erst als die Brutalität der Vertreibung und Vernichtung deutlich wurde, distanzierten sich die Widerständler vom "Wie" der Vorgänge, und auch das erst sehr spät.

Angesichts der Kriegsgreuel und der Judenvernichtung, vor allem aber, als die Niederlage absehbar wurde, formierte sich der Widerstand entschlossener. Waren die territoritalen Gewinne doch für die Militärs "gerechte" Erfolge gewesen, während sie nun an den wunderbaren Fähigkeiten Hitlers zu zweifeln begannen. Auch waren die Auswüchse des SA- und SS-Staates, die Überwachung und Gleichschaltung und die Beschränkungen der christlichen Kirchen nicht mehr zu ignorieren. "Nichts in der bisherigen Geschichte der Menschheit könnte mit solcher Brutalität verglichen werden", meinte Carl Goedeler, konfrontiert mit dem, was mit den Juden geschah.

Doch einmal mehr schreckten die Zögerer unter den Verschwörern zurück. Das nächste Hindernis bildete die Frage, ob man im Krieg die eigene Nation überhaupt durch ein Attentat und einen Putsch schwächen dürfe. Hatte man nicht den Eid geschworen, sollte man nicht doch auf den militärischen Erfolg vertrauen und dann Hitler eliminieren? Erst als die Katastrophe unabwendbar war, die Ostfront am Zusammenbrechen und die Landung der Alliierten in Frankreich vor der Tür stand, wuchs die "moralische Überzeugung" der Hitlergegner, dass man zur Tat schreiten sollte, egal, ob Aussicht auf Erfolg bestehe oder nicht. Hatte man noch kurz vorher in Geheimverhandlungen mit den Alliierten überhebliche territoriale Forderungen für den Fall der Kapitulation gestellt, so war man sich nun zunehmend einig, dass es ohnehin nur noch um ein Zeichen gehe, das man für die Nachkommen setzen müsse. Berthold von Stauffenberg, der Bruder des Attentäters, schrieb kurz vor dem Attentat an seine Frau: "Das Furchtbarste ist, zu wissen, dass es nicht gelingen kann und dass man es dennoch für unser Land und unsere Kinder tun muss."

Die Qualität des Buches macht nicht nur die Fülle von Zitaten und Fakten aus, die der Autor zu einer plausiblen Argumentationskette zusammenfügt. Obwohl es viele kritische Anmerkungen, Zeugnisse von Engstirnigkeit, Mitläufertum, Taktieren und Zögern enthält, schwächt Hamerow nicht die Ehrenhaftigkeit, den Mut und das Verantwortungsbewusstsein der Widerständler. Vieles, was an Hitlers Polemik heute übertrieben und peinlich wirkt, gehörte zum täglichen Sprachgebrauch der Eliten. Das Umfeld, in dem sich der Nationalsozialismus entwickeln konnte, wird hier deutlicher als in vielen anderen Büchern.

Persönlichkeiten wie der sensible Intellektuelle Helmut James von Moltke oder der junge evangelische Geistliche Dietrich Bonhoeffer werden gewürdigt. Das Buch zeigt die Männer des 20. Juli (200 wurden hingerichtet) als mutige Männer, die lang brauchten, sich aus ihren geistigen Verstrickungen zu befreien. Zu lang für die Opfer des Krieges: In den Monaten vom 20. Juli 1944 bis Kriegsende starben mehr Menschen als in den Jahren vorher. Voller Zweifel, voller Widersprüche, voller Irrtümer, haben sie ihr Leben riskiert und verloren, um dies zu verhindern.

Die Attentäter. Der 20. Juli - von der Kollaboration zum Widerstand. Von Theodore S. Hamerow. C. H. Beck Verlag, München 1999. 485 Seiten, Bilder, geb., öS 496,-/e 36,05

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