Die Nagas: Gott nannten sie "Großvater“

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Die Nagas, die im Nordosten Indiens leben, sind hierzulande unbekannt. Das Wiener Museum für Völkerkunde beherbergt eine der weltgrößten Sammlungen zu dieser Ethnie.

"Die Nagas sind ein sehr stolzes Volk“, erklärt Abraham Lotha, katholischer Priester, selbst Naga und anlässlich der Ausstellung "Naga -Schmuck und Asche“ nach Wien gereist. Das Völkerkundemuseum besitzt eine der größten Sammlungen von Naga-Kunst, Ritual- und Alltagsgegenstände von beeindruckender Ästhetik, in denen die Nagas in einer hochkodifizierten Symbolik über ihr Leben und ihre Welt erzählen. Nur mehr wenige alte Leute können diese Bilder lesen. Sie erklären in Video-Installationen diese Artefakte und bringen sie dadurch buchstäblich zum Sprechen - in all ihrer Vielfalt.

Denn der indische Bundesstaat Nagaland ist zwar nur so groß wie die Steiermark, hat aber zwei Millionen Einwohner, die mehr als zwanzig verschiedene Sprachen sprechen. Jeder der 16 Naga-Stämme hat eine eigene Sprache, und dazu kommen neben der Amtssprache Englisch und Hindi noch einige andere Sprachen. Father Abraham zählt zu den wichtigen intellektuellen Stimmen des Landes, das mit mehr als 90 Prozent Christen eine Sonderstellung im vorrangig hinduistischen Indien hat. Die Völker der Nagas hatten Jahrhunderte selbstständig und ohne viele Kontakte zur Außenwelt gelebt. Baptisten, später auch katholische Missionare, kamen nach den Briten, die sich 1828 das benachbarte Assam aneigneten. "Das Christentum ist heute ein sehr wichtiger Teil der Naga-Identität.“ Die Religion der britischen Eroberer wurde für die Nagas rasch zum Zeichen der Modernisierung. "Man bekehrte sich nicht nur zum Christentum, sondern zur Moderne“, sagt Father Abraham, denn das Christentum wird bis heute am indischen Subkontinent mit besserer Bildung assoziiert - und damit auch mit besseren beruflichen Möglichkeiten. Zudem gab das Christentum den diversen linguistischen Gruppen der Nagas eine gemeinsame Basis.

Fortschreibung des Kolonialismus

Für die indische Regierung zählen die Nagas zu den "Stammesvölkern“. Das sind nach jüngster Zählung 654 Völker, rund 10 Prozent der Bevölkerung Indiens, für die es eigene Förderungen geben soll. Die indische Regierung schreibt mit der Bezeichnung "Stammesvölker“ die Vorurteile der britischen Kolonialmacht weiter, kritisiert Lotha. Britische Quellen stellten die Nagas, die erst 1880 ihre Unabhängigkeit endgültig einbüßten, als ignorant, dickschädelig, exotisch und feindselig dar. Auch wollten die Nagas nicht Teil des neuen, postkolonialen indischen Nationalstaats werden. Da sie sich selbst weder von Hindus noch von Muslimen beherrschen lassen wollten, legten die Nagas bereits 1929 ein Memorandum vor, in dem sie ihre Unabhängigkeit von Indien forderten. Doch weder in den letzten Tages des British Raj noch unter dem neuen indischen Staat gelang es den Nagas, ihre Autonomie für Nagaland und die Nagas, die in benachbarten indischen Bundesstaaten leben, durchzusetzen. Als Folge schwelt seit Mitte der 1950er-Jahre ein Guerilla-Krieg um die Eigenständigkeit.

Darin kamen nicht nur Tausende Menschen um, sondern es wurden auch viele der Kunst- und Ritualgegenstände der Nagas buchstäblich zu Asche. Die Naga-Sammlung des Wiener Völkerkundemuseums bewahrt daher einen großen Teil des materialen kulturellen Gedächtnisses der Naga.

Der bewaffnete Konflikt in Nagaland im Nordosten Indiens gehört zu den vielen postkolonialen Lokkalkriegen um Identität und Selbstbestimmung, die in den westlichen Medien kaum wahrgenommen werden. Zum Konflikt tragen auch die Spannungen zwischen den einzelnen Naga-Gruppen bei, die vor allem ihre eigenen Interessen verfolgen, wie Father Abraham in einem scharfen und viel kommentierten Artikel im regionalen Morung Express kritisiert.

Ein Guerillakrieg in Nordostindien

Die Naga-Schriftstellerin Easterine Kire Iralu - ihre Bücher sind hierzulande im Picus-Verlag erschienen - schreibt: "Ausgangssperren und fortgesetzes Geschützfeuer waren Teil des Erwachsen-Werdens in Nagaland. Doch der Konflikt bekam ein noch hässlicheres Gesicht, als in den 1980ern interne Kämpfe ausbrachen. Auf der einen Seite dauerten die Gewalttaten der indischen Armee an, und das kostete das Leben vieler Zivilisten und dauert in geringerem Maße bis heute an. Auf der anderen Seite gibt es die Kämpfe zwischen verschiedenen Gruppen von Naga-Freiheitskämpfern wegen ideologischer Differenzen.“ Easterine Iralu ist deswegen mit ihren Kindern 2005 nach Norwegen ausgewandert. "Es wird Zeit, dieses Kapitel zu schließen und weiterzugehen“, sagt Father Abraham und hofft auf Verhandlungen zwischen Naga-Vertretern und der Regierung in Delhi, die zurzeit stattfinden.

In dem Konflikt geht vor allem um die Nutzung der reichen Ressourcen, deren Gewinn von den Nagas beansprucht wird. Dabei geht es vor allem um Wasserkraft, aber auch um Holz - und um die Frage der Landflächen für den Ackerbau, denn die Nagas sind traditionell Ackerbauern, auch wenn sie noch immer einen Ruf als Kopfjäger haben. "Ja, manche Nagas sind Kopfjäger und arbeiten sehr erfolgreich für internationale Firmen“, lacht Father Abraham. Auch in Europa oder den USA werden bis heute Soldaten, die erfolgreich Feinde töten, mit Medaillen belohnt, gibt er zu bedenken. Die Nagas waren eben Krieger, die ihre Dörfer verteidigen mussten. Der Kopf eines getöteten Feindes bewies ihre Tapferkeit und berechtigte sie, bestimmte Federn als Schmuck zu tragen. Unter dem Einfluss des Christentums gaben sie die Kopfjägerei auf, wie auch viele andere Bräuche unter dem Einfluss der Missionare verschwanden.

Den Missionaren zollt Abraham Lotha hohes Lob für ihren Einsatz in abgelegenen Dörfern ohne Strom und Wasser. Das Christentum erschien den Nagas dabei keineswegs fremd. Vieles, was die Missionare aus der Bibel erzählten, konnten die Nagas mit ihren eigenen Traditionen verbinden. "Für einen Naga ist es nicht schwierig, das Alte Testament zu verstehen, denn es handelt von Menschen, die in Kleingesellschaften leben“, so Father Abraham. "Das Alte Testament ist ein Teil der Heilsgeschichte. Jedes Volk hat seine eigene Heilsgeschichte. Wir haben unsere eigene Geschichte, in der Gott gegenwärtig war, bevor wir Jesus kennenlernten; wir hatten eine andere Beziehung zu Gott als US-Amerikaner oder Österreicher.“

"Vater“ als Gottsname nicht überraschend

Die Geschichte von Jakob, der mit Gott ringt oder Abraham, der unter den Terebinthen von Mamre von Gott Besuch erhält, ist für Nagas gut verständlich - denn auch zu ihnen kam ab und zu Gott ins Dorf zu Besuch. Man sah Gott nicht, man hörte nur ein Wispern, doch am nächsten Tag feierte das ganze Dorf diesen Besuch, erzählen die alten Leute. "Großvater“ nannten sie Gott, und sie fürchteten sich ein wenig, wenn Gott kam. Dass Jesus Gott "Abba“, "Vater“, nennt, war für die Naga nicht überraschend, sagt Lotha, sondern verbesserte ihre Gottesbeziehung durch eine persönliche Dimension.

Manche versuchen heute, an die Traditionen der Zeit vor den Missionaren anzuknüpfen. Doch "es ist unrealistisch, die alten Traditionen wiederzubeleben“, sagt Lotha. Die Naga müssen heute ihre Identität neu formulieren. Alte Werte wie Freundschaft, Großzügigkeit oder Verantwortung für die Gemeinschaft sind auch heute wichtig. Junge Nagas beginnen, nach alten Überlieferungen zu suchen und sie neu zu interpretieren. Ob das nun Rockmusik beim alljährlichen Hornbill-Festival ist, das seit 2000 vom staatlichen Tourismus-, Kunst- und Kultur-Büro veranstaltet wird oder elegante Ethno-Mode, die alte Naga-Muster und -Schnitte aufnimmt: Die Erzeugnisse der künstlerischen Kreativität der Naga sind lebendige Beiträge zu einer sich neu artikulierenden globalen Kultur.

Naga - Schmuck und Asche

Museum für Völkerkunde, Wien

www.ethno-museum.ac.at. Bis 11. Juni

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